Es ist mir ein Rätsel, dass die Philosophie in ihrer Form einst so frei gewesen ist und nun von einem rigiden Einheitsdrang erfasst ist – zumindest unter den Akademikern. In der Vergangenheit war der Gedanke zwar im Vordergrund, aber der Autor war frei ihn so zu kleiden und in die Welt hinauszuschicken, wie es ihm beliebte. Neuerdings kleidet der Philosoph seinen Gedanken in eine Uniform: Diese Uniform ist äußerst eng, muss strukturell strammstehen und ist rhetorisch staubtrocken. Sie zwingt den Gedanken dazu, sich in eine klitzekleine Nische einzunisten, um ja nichts zu sagen, was aus der ihm zugeschriebenen Fuge schwappt. Jedes Mittel ist recht, um alle anliegenden Fässer geschlossen zu halten.
Vielleicht ist der Hintergrund der Entwicklung zu diesem einheitlichen Format, dass es wahrhaftig progressiv ist und sich als beste Praxis erwiesen hat. Womöglich soll der Stil heute auch nicht mehr von dem Gedanken ablenken und das vorherige üppige Gewand gilt als schlechter Ton. Ich sehe da aber noch eine weitere denkbare Ursache: Die Furcht der Philosophie als Wissenschaft nicht geachtet zu werden. Philosophen haben eine Heidenangst, nicht mit den Methoden der Naturwissenschaft mitzuhalten und als bloße Sprachkünstler, und nicht „ernstzunehmende Mitspieler“, angesehen zu werden. Aber steht die Mutter aller Wissenschaften wirklich auf solch brüchigem Grund, dass sie sich für ihren Ton rechtfertigen muss? Keine Frage: Die Philosophie ist keine Naturwissenschaft par excellence; sie schwirrt anmutig zwischen Wissenschaft und Kunst und bedient sich der Werkzeuge beider. Allerdings sollte sie das eigentlich stolz und frei machen. Frei zu sagen, was sie will und wie sie will. Und verdammt gibt es viele Arten etwas Gescheites zu sagen: in Gedichtform, im Roman, als Film, in einem Lied, als Zeichentrickserie, in Podcasts und als Karikatur …
Ich rebelliere, in meiner Art Philosophie zu betreiben, deshalb seit einigen Jahren dagegen, sie in ihrer Artenvielfalt verarmen zu lassen, und so ergab sich auch, geradezu selbstverständlich, das Format für meine Masterarbeit. Sie trägt ein gegenwärtig unübliches Gewand, ist aber eigentlich eine Ode an die Tradition in der Philosophie. Diese Schrift ist in gewisser Weise eine Hommage an Platon.
Ja, meine Masterarbeit, möchte ich damit ankündigen, ist ein Dialog.
Figuren
Ort
Abend, Frühling 2023. Eine linke ex-jugoslawische Künstlerbar im Zentrum von Neukölln (Berlin). Es wird Schach gespielt und gekrökelt. Im Hintergrund erklingt auf einem Plattenspieler Soul-Musik.
Hinweis
Die Herausgeberin dieses Dialogs war zur gegebenen Zeit zufällig vor Ort und hat sich die größte Mühe gemacht, die Gespräche des Abends, getreu der Geschehnisse, festzuhalten. Sie hat sich außerdem die Freiheit genommen, einige der Begrifflichkeiten, die die Figuren verwenden, zu erläutern und hier und da einen Kommentar zu einer vermuteten Quelle zu hinterlassen.
Magnus sitzt am Tresen und nippt an einem Pils. Theo und Xenia betreten die Bar und bestellen dasselbe. Sie setzen sich zu Magnus.
Theo: Wartest du schon lange hier? Ich habe eine alte Freundin mitgebracht. Das ist Xenia. Sie ist ebenfalls Philosophin.
Magnus und Xenia reichen sich die Hand.
Magnus: Nicht lange, nein. Magnus. Freut mich.
Theo: Xenia besucht mich über die Semesterferien für einen Tapetenwechsel während der Verfassung ihrer Masterarbeit.
Magnus: Und welche Tapete wird gewechselt?
Xenia: Eine italienische.
Magnus: Und das italienische Klima verlässt man für den elenden Berliner Frühling?
Xenia: Gutes Wetter ist für Schreibarbeit nicht immer der beste Begleiter.
Magnus: Und woher aus Italien kommst du?
Xenia: Ich studiere momentan an der Universität in Salerno, aber ich komme ursprünglich aus Ascea [1], nicht fern von Neapel.
Theo: Ich habe gehofft, Xenia könnte frischen Wind in unsere Streitigkeiten bringen und sie vermutet, wir inspirieren sie zu ein paar neuen Zeilen für ihre Masterarbeit.
Magnus: Frischer Wind ist längst geboten. Worüber schreibst du?
Xenia: In gewisser, figurativer, Weise über den Gigantomachie-Abschnitt aus dem „Sophistes[IA1] “.
Magnus: Platons Sophistes? Es ist lange her. Ich erinnere mich bloß an den zentralen Gedanken, einen Versuch, zwischen Philosophen und Sophisten zu unterscheiden. Entscheidend ist, dass Sophist und Philosoph von außen kaum zu trennen sind: Beide verfügen über ein äquivalentes rhetorisches und logisches Handwerk. Sie scheinen, oberflächlich betrachtet, gleichartig zu sein. Dabei widmet der Philosoph aber sein ganzes Dasein dem Streben nach Erkenntnis und Wahrheit und das sophistische Ziel ist unbestimmt. Vielleicht strebt der Sophist nach Anerkennung und Ruhm, vielleicht auch nach Reichtum, aber die Wahrheitsfrage spielt für ihn keine Rolle. Dadurch, dass hier der Begriff des Scheins ins Spiel kommt, führt das Ganze zu einem Diskurs über Seiendes und Nicht-Seiendes.
Theo: Ich kann mir das Thema auch nur vage vergegenwärtigen, aber was die „Gigantomachie“ angeht, so kann ich mich ums Verrecken nicht an sie erinnern.
Xenia: Es ist nicht verwunderlich, dass ihr euch nicht daran erinnert. Es handelt sich hier lediglich um einen sehr kurzen Abschnitt des Dialogs.[2]
Theo: Hat es nicht auch eine Gigantomachie in der griechischen Mythologie gegeben?
Xenia: Ja, es stimmt, dass die Gigantomachie der griechischen Mythologie entstammt. [3] Dort bezeichnet sie den Kampf zwischen den griechischen Göttern und Giganten. Nach dem Sieg über die Titanen, in der Titanomachie, erobern Zeus, Poseidon und Hades den Olymp und teilen sich ihre Herrschaft: Zeus übernimmt die Macht über den Himmel, Poseidon regiert über das Meer und Hades über die Unterwelt. Die besiegten Titanen werden bestraft und in die Unterwelt verbannt. Gaia, die personifizierte Erde und Mutter der Titanen, erzürnt über diese Bestrafung ihrer Kinder und zeugt deshalb die Giganten, die, im Gegensatz zu den Titanen, nicht von Gotteshand besiegt werden können. Sie ermutigt die Giganten dazu, den Olymp zu stürmen und riesige Felsen und brennende Bäume gen Himmel zu schleudern.
Magnus: Und wie geht das aus?
Theo: Sicher trotzdem mit dem Sieg der Götter.
Xenia: Ja, die Götter siegen, aber bloß durch eine List. Der Halbgott Herakles schwächt die Giganten mit seinen Pfeilen, die mit dem giftigen Blut der Hydra getränkt sind.
Magnus: Und was hat das mit Platons Werk zu tun?
Xenia: Die Figur des Fremden im Sophistes nutzt die Giganten und Götter als Metapher für die Anhänger zweier gegnerischer philosophischer Schulen: Die Götter sind vermutlich Platoniker und Anhänger der Ideenlehre und die Giganten, ihre Gegner – die epikureischen Atomisten.
Theo: Na, selbstverständlich schreibt Platon den Anhängern der Ideenlehre den Sieg zu.
Xenia: Das ist das Wesentliche: So eindeutig ist der Sieg nicht – ebenso wie in der Sage. Weder die einen noch die anderen erfassen das Sein hinreichend, und sowohl die Götter als auch die Giganten verfallen, im Einzelnen auf die Probe gestellt, einem Widerspruch. Wobei Platons Fremder den Göttern natürlich dennoch mehr Vernunft zugesteht als ihren Feinden.
Magnus: Ich nehme an, die Argumente, die Platon hier verwendet, stellst du uns noch vor. So wie ich das verstehe, analysierst du die Stelle für deine Masterarbeit im Detail und schaffst einen historischen Kontext zu den entsprechenden Strömungen?
Xenia: Nein, das empfinde ich nicht als besonders relevant für mein Vorhaben und ich habe auch noch nie gern philosophiegeschichtlich gearbeitet. Ich möchte lediglich zeigen, dass die Gigantomachie fortwährt. Das will ich tun, um überaus optimistisch und unverschämt zu behaupten, dass ich selbst eine Theorie vertrete, die der Gigantomachie hier und jetzt ein Ende setzen könnte.
Magnus: Du kündigst an, eine klare Überzeugung zu haben. Damit weckst du meine Neugier. Ich habe den agnostischen Wisch-Wasch in der heutigen Philosophie satt. Nicht immer tut man seiner These etwas Gutes, indem man sie als vages Spektrum darstellt. Manche Dinge verlangen schlicht nach einem Ja oder Nein.
Theo: Das ist alles packend, aber lass mich an dieser Stelle nachhaken. Wie ist es dir möglich von einem fortwährenden Krieg zu sprechen, wenn wir heute doch weder ernstzunehmende Vertreter der Atomisten noch der Ideenlehre haben? [4]
Xenia: Ich würde es so fassen: Die Ideenlehre ist eine Art Ursprungsform des Idealismus und Dualismus, und die Lehre der Atomisten ist eine Urform des Materialismus. Weder haben die Götter in der Antike, noch in der Epoche des Rationalismus oder während der Spätromantik gesiegt. Und auch die Giganten – die Materialisten und Naturalisten – tragen den Sieg zu unserer Zeit nicht davon. Vor allem, wenn wir den Idealismus und Materialismus betrachten, haben wir es hier mit einem Widerspruch [IA2] zweier Monismen zu tun, der in dieser Form keine Aussicht hat, sich aufzulösen. Die Philosophin aber, will ich sagen, muss wie ein Kind nach beidem betteln und darauf bestehen, dass das Seiende, sowohl das ist, was materiell ist, als auch das, was immateriell und geistig ist.[5]
Magnus: So wie ich das verstehe, plädierst du auf der Basis dieser Kluft also schlicht für den Dualismus? Seit knapp vierhundert Jahren ist dieser Ansatz nichts Neuartiges. Es sei denn, du hast einen eigenen Dualismus entwickelt, der das Leib/Seele-Problem plötzlich aus dem Weg sprengt, und das wäre dann wohl auch der Grund, weshalb du behauptest, äußerst optimistisch zu sein.
Theo: Mit „Dualismus“ meinst du den Substanzdualismus, also die Annahme, dass mentale und physische Entitäten zwei grundsätzlich verschiedene Phänomene sind?
Magnus: Genau.
Xenia: Ich vertrete keinen Dualismus. Ich bin durch und durch Monistin. Ich will sagen: Solange wir von dem Materiellen und dem Immateriellen als von zwei getrennten Entitäten sprechen, gießen wir bloß Öl ins Feuer der Gigantomachie. Der Dualismus löst in meinen Augen keine Probleme – er erschafft sie.
Theo: Wie willst du behaupten, dass du Monistin bist, wenn du doch bereits vorgegriffen hast, dass du weder Materialistin noch Idealistin bist, und geäußert hast, dass wir sowohl dem Materiellen als auch dem Immateriellen ein Sein zugestehen müssen?
Xenia: Ich vertrete einen Substanzmonismus, der sich in einem lediglich phänotypischen Dualismus, ja eigentlich einem phänotypischen Trialismus, manifestiert. Meine Annahme ist, dass es eine neutrale, unförmige Substanz gibt, die entweder neutral verbleibt und somit in unserer Alltagssprache „nicht ist“, oder sich in zwei phänotypisch diverse Formen als „seiend“ festigt – einerseits in die Form des geistig Seienden und andererseits in die Form des physisch Seienden. Der ontologische Dualismus hat sein Problem dort, wo das Sein in zwei Entitäten zerfällt – da, wo wir getrennt über das Materielle und das Immaterielle sprechen. Mein Monismus steuert dagegen.
Magnus: Stopp, stopp, stopp. Das ist zu viel in einem Zug. Vor allem schmeißt du mir hier zu viele Begriffe in den Raum und gibst keine Definitionen. Ich komme nicht mehr mit.
Xenia: Keine Sorge, ich bin gerne bereit, später mehr in die Details zu gehen.
Magnus: Ja, das musst du wohl, aber ich denke, einige Begriffe müssen wir jetzt klären.
Xenia: Gut. Um welche geht es dir?
Magnus: Was ist bei dir zum Beispiel dieses „Seiende“ und das „Nicht-Seiende“? Es handelt sich nicht gerade um eine alltagssprachliche Formulierung. „Substanz“ finde ich aber auch problematisch.
Xenia: Gut. Fangen wir mit dem „Seienden“ und dem „Nicht-Seienden“ an. Das sind Begriffe, die ich von Platon übernommen habe. Es ist mir gar nicht bewusst gewesen, dass sie missverständlich sein könnten, aber da habe ich natürlich den Elefanten im Raum übersehen. Mein Seiendes kannst du fürs Erste analog zum Existierenden verwenden. Was „ist“, das „existiert“, und „Sein“ ist etwas, das allem, was existiert, zukommt. Ich könnte demnach sagen: „Orcas sind ein Seiendes“, und genauso gut könnte ich sagen: „Orcas existieren.“ Der Gegenbegriff zum Seienden ist das Nicht-Seiende, oder anders formuliert: das Nicht-Existierende. So könnte ich sagen: „Hippokampi [6] sind ein Nicht-Seiendes“, oder: „Hippokampi existieren nicht.“ Oberflächlich sollte das gut fassbar sein, unterschwellig ergeben sich jedoch viele Probleme: Inwiefern existiert ein Orca im Gegensatz zu einem Hippokamp? Natürlich in dem Kontext, dass es jetzt, in diesem Moment, ungefähr 50.000 Schwertwale auf der Welt gibt. Und Hippokampi hat es, physisch gesehen, nie gegeben. Aber Hippokampi existieren durchaus als Teil der antiken griechischen Mythologie.
Theo: Du möchtest sagen, dass das, was „ist“ oder „existiert“, von der jeweiligen Frage danach abhängt. Wenn ich frage: „Welche Lebewesen existieren auf der Erde?“, sagst du: „Orcas existieren und Hippokampi existieren nicht.“ Wenn ich aber frage: „Welche Lebewesen existierten im Rahmen der antiken griechischen Mythologie?“, sagst du: „Hippokampi existierten und Orcas nicht.“
Xenia: Korrekt.
Magnus: Fein, aber ich finde es trotzdem schwierig, von dem Nicht-Seienden zu sprechen. Geht das denn nur kontextuell?
Xenia: In gewisser Weise schon, entweder etwas, von dem du sprichst, existiert lediglich als ein mentales Konzept, oder als physische Realität und ihre mentale Repräsentation[7]. Ansonsten könntest du natürlich abstrakt von dem Nichts sprechen, was keine weiteren Eigenschaften hätte, als nicht zu sein. Eine Art leerer formloser Raum, den ich später gerne noch als Möglichkeitsraum oder neutrale Substanz bezeichnen würde.
Magnus: Gut, dann verschieben wir diese Einzelheiten auf später. Aber ich muss jetzt trotzdem wissen, was es mit der „Substanz“ auf sich hat.
Theo: Nicht mehr und nicht minder willst du von ihr, als dass sie lässig im Gespräch, im nebenbei, erläutert, was Sein, Nicht-Sein und Substanz ist …
Xenia: Schon gut, für mein Anliegen komme ich um solche Definitionen nicht umhin. Wobei ich mir vorbehalte, sie im Verlauf des heutigen Abends zu ergänzen. Jetzt wollen wir dem nicht zu viel Zeit widmen. Nun, also zur Substanz. Ich sage, dass der Ausdruck für mich das bezeichnet, was „Ursache von sich selbst ist“, eine Causa sui. So ist die Substanz, in meinen Worten, die neutrale Grundlage für alle Attribute.
Magnus: Also sozusagen ein Stoff, dem an sich keine Eigenschaften zukommen? Eine Entität entledigt aller Wesensbeschaffenheiten? Ich verstehe.
Xenia: Ich würde zwar gerne jetzt noch mehr dazu sagen, aber ich möchte nicht zu viel vorwegnehmen.
Theo: Wisst ihr, mich erinnern diese Ansätze zum Thema Substanzmonismus an Spinoza [8] oder auch Russell [9].
Xenia: Meine Theorie hat zwar gewisse Gemeinsamkeiten mit beiden, aber ich beabsichtige nicht, auf sie Bezug zu nehmen.
Theo: Dein gutes Recht. Aber wurdest du von ihnen inspiriert?
Xenia: Nein. Diese Idee kam unabhängig zu mir. Ich zerbrach mir den Kopf über den Materialismus, Idealismus und Dualismus. Den Materialismus und Idealismus konnte ich gut für mich abtun, aber die Probleme des Dualismus ließen mich nicht ruhen. In einer Art Erleuchtung kam mir dann der Gedanke von einer monistischen Theorie, die nur phänotypisch pluralistische Züge hätte. Hat man in der Philosophie jedoch eine Idee, kann man sich bekanntlich sogleich auf den Weg machen, um zu erfahren, wer ihr eigentlicher Urheber war. Russell und Spinoza entpuppten sich als Kandidaten.
Theo: Ja, das mit den originellen Ideen in der Philosophie ist eine ärgerliche Angelegenheit. Da ist man kurz außerordentlich stolz, etwas Neues und Schlüssiges hervorgebracht zu haben, und das hat natürlich, wie immer, jemand anderes bereits zuvor gedacht und ausgeführt.
Magnus: Zum Glück ist gegen die Wiederholung eines klugen Gedankens nichts einzuwenden. Hören wir ihn denn nun?
Xenia: Geduld. Ich möchte ja zuallererst damit beginnen, dass ich euch zeige, dass die Gigantomachie, die noch vor Platon begann, heute noch kein Ende gefunden hat. Das ist die Stelle, wo ich gerne, in Anlehnung an Platon, ein kleines Rollenspiel mit euch durchführen würde. Könnte einer von euch, je nach Überzeugung und Wissensstand, die Rolle der Giganten übernehmen und der andere die Rolle der Götter?
Magnus: Da ich Materialist bin, ist meine Rolle klar.
Theo: Ja, hier erkennst du auch den Grund unserer üblichen Streitereien. Er ist ein waschechter, moderner Gigant. Ich hingegen, bin Dualist. Da kann ich mich sicher besser in die Rolle der Götter versetzen als er und kann heute meinetwegen Idealist sein.
Xenia: Das ist gar nicht notwendig – ich habe zuvor betont, dass Götter auch Dualisten sind. Du musst nicht Platons Mischung aus Idealismus und Dualismus vertreten. Im „Sophistes“ kommt es eigentlich sogar zu einer ähnlichen Begebenheit. Der eleatische Fremde hat keine gute Meinung von den Giganten, weshalb er in seinem eigenen Rollenspiel vorschlägt, sie „besser zu machen“. Er sagt: Das, was von Besseren eingestanden wird, ist mehr wert, als das, was von Schlechteren eingestanden wird. [10] Es ist mir lieber, wir arbeiten mit Theorien, denen wir wohlgesinnt sind, und die Idealisten sind momentan nun mal schlecht aufgestellt. Ein gewiss fähiger Dualist wie du könnte entsprechend ein Halbgott sein, der uns, gleich Herakles, hier gerade recht kommt.
Theo: Ein Halbgott also? Soll mir recht sein.
Xenia: Wie wäre es jetzt, wenn wir das ganze nach Platon-Manier durchspielen? Wenn ich euch in voller Materialismus- und Dualismus-Montur in die Arena treten lasse. Im Nachhinein verspreche ich dann auch, selbst dazu zu treten, vor euch meine Auffassung darzulegen und mich klaglos eurer Kritik auszuliefern.
Magnus: Wie ich das verstehe, fällt dir also die Rolle der Fremden zu, die die sokratische Hebammenkunst betreibt.
Xenia: Stimmt genau.
Magnus: Die Rolle einer Fremden, die aber nicht dazu in der Lage sein wird, unvoreingenommen nach der Wahrheit zu fragen, weil sie längst eine eigene Agenda verfolgt.
Xenia: Ich brauche ja auch gar nicht unparteiisch zu sein. Sokrates führt die Gesprächsteilnehmer mit seinen Fragen ja auch stets zu seinen eigenen Schlussfolgerungen. Wir spielen hier einfach mit offenen Karten und ihr wisst bereits, welches Kind ich zur Welt bringen möchte.
Theo: Für einen klassischen platonischen Dialog fehlt uns dann aber noch Sokrates.
Xenia: Kein Problem. Nehmen wir einfach an, er ist anwesend und stiller Zeuge.
[1] Ascea ist eine Region in Süditalien, in der ursprünglich die Hafenstadt Elea lag. Elea war die Heimatstadt der Eleaten – der Philosophenschule, zu der u.a. Parmenides und Zenon gehörten.
[2] Platon (2007). Sophistes. Übersetzung: Schleiermacher, F. Suhrkamp Verlag. [245e-249d].
[3] Fry, S. (2018). Mythos. Penguin Books.
[4] Auch wenn Platons Ideenlehre heute keine dominante Position in der Debatte einnimmt, so finden sich dennoch Vertreter ihrer Neufassungen und Philosophinnen, die sich auf die Ideenlehre als Grundlage ihrer Auffassungen berufen.
Beispiele:
Von Kutschera, F. (2022). Die Wege des Idealismus. Brill mentis.
Wieland, W. (1999). Platon und die Formen des Wissens. Vandenhoeck & Ruprecht.
[5] Das scheint bereits ein Wink zu Platons Fremden im Sophistes zu sein, der in Bezug auf den Seinsbegriff der Götter sagt, dass ein Philosoph wie ein Kind nach beidem betteln und darauf bestehen müsse, dass das Seiende, sowohl das ist, was sich ändert, als auch das, was beständig bleibt.
Platon. Sophistes. [249c-d].
[6] Hippokampi sind Fabelwesen aus der griechischen Mythologie. Es handelt sich um Seeungeheuer, die vorne Pferd und hinten Fisch sind.
[7] Mit „mentaler Repräsentation“ mein Xenia wohl, dass Sachverhalte der Außenwelt durch den Akt der menschlichen Wahrnehmung eine interne geistige Entsprechung haben.
[8] Theo bezieht sich wahrscheinlich auf die Ethik von Spinoza:
Spinoza, B. (2015). Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Übersetzung und Herausgeber: Bartuschat, W. Felix Meiner Verlag.
[9] Theo bezieht sich wahrscheinlich auf Die Analyse des Geistes von Russell:
Russell, B. (2012). Die Analyse des Geistes. Übersetzung und Herausgeber: Grelling, K. Anaconda Verlag. Felix Meiner Verlag.
[10] Platon. Sophistes. [246c-d].
Xenia: Beginnen wir mit dem, wofür ihr überhaupt steht. Es verlangt nach einigen Definitionen, denn Materialismus ist nicht gleich Materialismus und ebenso steht es um den Idealismus, oder Dualismus. Platons Fremder beschreibt die Giganten etwa so: Sie zerren alles aus den himmlischen Gewölben des Unsichtbaren zur Erde hernieder und klammern sich mit ihren Händen an Felsen und Bäume; sie bestehen darauf, dass nur Sichtbares und Greifbares „ist“, und definieren „Sein“ identisch mit „Körper“ – hasserfüllt schlagen sie jegliche Einwände gegen ihre Sichtweise aus. [1] Ich bin überzeugt, wir können dem Materialismus heute ein weniger gewaltsames Bild abgewinnen. Beginnen wir also mit dir, Magnus. Stimmst du Platons Beschreibung der Giganten zu?
Magnus: Ich stimme der aggressiven Metapher nicht zu und muss sagen: Wenn es nichts „Himmlisches“ gibt, gibt es auch nichts zur Erde herniederzureißen. Immaterielles existiert schlicht nicht. Am Weiteren könnte ich anknüpfen, denn ja, der Materialismus ist der Ansicht, dass alles, was existiert, auch materiell ist. Alle Tatsachen, einschließlich der Tatsachen über den menschlichen Geist und den Verlauf der Menschheitsgeschichte, sind physikalische Prozesse.
Xenia: Und wie steht es um den Aspekt des Sichtbaren und Greifbaren bei der Materie?
Magnus: Sicher ist nicht alles, was existiert, für den Menschen sichtbar und greifbar. Die Welt besteht nicht ausschließlich aus harten, massiven Objekten. Ich beabsichtige nicht, hier einen mechanischen Materialismus zu vertreten.
Xenia: Und welche Form des Materialismus schwebt dir vor?
Magnus: In der Physik wird Materie als eine Substanz [2] verstanden, die Masse besitzt und einen physischen Raum einnimmt. Diese Substanz setzt sich aus diversen Arten von Teilchen zusammen, zum Beispiel aus Elektronen, Protonen und Neutronen. Unter meinen Materialismus-Begriff würde ich dann auch noch die Energie, also die Fähigkeit mechanische Arbeit zu verrichten, Wärme abzugeben oder Licht auszustrahlen, fassen. Damit möchte ich den Begriff des materiellen Dings insofern erweitern, als, dass er nicht nur alle Elementarteilchen, sondern auch alles andere, was in der fundamentalen physikalischen Theorie postuliert wird, umfasst.
Xenia: Verstehe. Da du Materialist bist, können wir festhalten, dass die Leib/Seele-Begrifflichkeit als dualistisches Konzept für dich nicht infrage kommt. Dennoch benutzen wir in der Alltagssprache metaphysisch konnotierte Begriffe. So schreiben wir der Seele und dem Geist bestimmte Funktionalitäten zu. Bestimmt schreckst du auch nicht davor zurück, diese zu nutzen. Ich glaube, ich habe dich heute das Wort „Geist“ bereits erwähnen hören.
Magnus: Ja, ich verwende diese Ausdrücke – aber lediglich als Sammelbegriffe für Gehirnprozesse. Ich weiß nicht, ob dir daran liegt, die Begriffe „Geist“ und „Seele“ zu unterscheiden, aber wenn wir es nun tun, wäre anzunehmen, dass wir der Seele die Fähigkeiten des Fühlens zuschreiben – Gefühle wie Kummer, Reue, Wut und Liebe, und dem Geist die Fähigkeiten des Denkens [3]. Im Falle einer solchen Unterscheidung würde ich sagen, dass unser Seelenkonzept identisch mit den Gehirnprozessen ist, die fürs Fühlen verantwortlich sind, und der Geist mit den Gehirnprozessen, die fürs Denken verantwortlich sind.
Xenia: Soweit ich das beurteilen kann, ist die Unterscheidung dieser Begriffe nicht entscheidend, weshalb ich vorschlage, dass wir für unser Gespräch unter den Begriff „Seele“ all diese Fähigkeiten fassen: das Fühlen und das Denken.
Magnus: Das soll mir recht sein. Entsprechend ist mein Seelenbegriff identisch mit den Gehirnprozessen, die das Fühlen und Denken verantworten. Und Gehirne sind für mich auf die Gesetze reduzierbar, die für grundlegende physikalische Entitäten gelten. Ich möchte betonen, dass das Gehirn dabei auch nicht etwa „die physische Basis einer immateriellen Seele ist“. Was eine physische Basis hat, ist schlicht ein physischer Prozess und eine derartige Formulierung scheint mir etwa so albern, wie zu sagen, „die Lunge sei die physische Basis der Sauerstoffaufnahme“; denn die Tatsache, dass etwas eine physische Basis hat, macht die Sache selbst zu einer materiellen Angelegenheit. Die Elemente der Menge namens „Seele“ sind Gehirnprozesse und keineswegs immateriell. Lass mich aber gerne eine Sache klarstellen: Wenn ich sage, dass Gehirne für mich auf die physikalischen Gesetze reduzierbar sind, so ist mir dabei durchaus klar, dass wir uns auf einem Areal bewegen, das noch viele Unbekannte birgt.
Xenia: Ausgezeichnet. Auf die Menge „Seele“ würde ich später gerne zurückkommen. Aber zunächst eine andere Frage: Ist deine Sichtweise deterministisch? Ist Willensfreiheit für dich denkbar, wenn das Gehirn und der ganze Körper – und mehr sind wir deiner Annahme nach nicht – den universellen Naturgesetzen unterliegen?
Magnus: Du fragst, ob ich Kompatibilist oder Determinist bin? Was tut das zur Sache?
Xenia: Einerseits bin ich neugierig, und andererseits ist das Determinismus-Problem sehr eng mit dem Leib/Seele-Problem verwoben. Je mehr ein Mensch naturwissenschaftlich forscht, desto mehr Gesetzmäßigkeiten erkennt er in der Welt, und muss sich entsprechend fragen, ob sich auch das menschliche Denken den Gesetzen von Ursache und Wirkung unterwirft.
Magnus: Ich tendiere dazu, Determinist zu sein, wenn mir auch bewusst ist, dass das eine lange Reihe moralischer Probleme zur Folge hat. Diese Probleme nehme ich aber lieber in Kauf als den Kompatibilismus. Ich sehe nicht ein, dass der Mensch als erstes Glied von Kausalketten auftritt – sozusagen als „unbewegter Beweger“ [4]. Das nährt in meinen Augen bloß den menschlichen Gotteskomplex.
Xenia: Lassen wir die Kompatibilismus-Debatte sicherheitshalber ruhen. Dann will ich dich noch kurz zu deinem Determinismus befragen. Nehmen wir an, die physikalischen Grundlagen wären hinreichend bestimmt. Würde man dann jeden mentalen Zustand und jeden Gedanken eines Menschen über seine gesamte Lebensspanne hinweg prognostizieren können?
Magnus: Vielleicht bei einem Menschen in der Petrischale. Ich glaube, mit den mentalen Zuständen des Menschen verhält es sich, wie mit dem Wetter. Es liegt in der Natur der Wettervorhersage, selten exakt richtigzuliegen, da in der Atmosphäre hochgradig nicht-lineare Prozesse ablaufen, womit immer ein gewisser Unsicherheitsbereich besteht. Wir könnten aus unserer Perspektive von einem Chaos sprechen, aber es wäre dennoch ein durch und durch determiniertes Chaos. Ich will es so erklären: Sofern man genügend gute Beobachtungen vorliegen hat, kann man im Prinzip alles ausrechnen. Allerdings sind wir aufgrund von Beschränkungen hinsichtlich Genauigkeit und Anzahl der Beobachtungen immer mit Fehlertoleranzen konfrontiert. Möchte man Vorhersagen treffen, die weiter als einen Tag in die Zukunft reichen, muss man mit einer kontinuierlich zunehmenden Fehlertoleranz rechnen und so auch mit einer abfallenden Qualität der Vorhersagen. Und je weiter wir in die Zukunft schauen wollen, desto schwieriger werden verlässliche Aussagen. Der menschliche Organismus ist ein System, dwas innerhalb eines Gesamtsystems existiert, das sich in seiner Gänze unmöglich erfassen lässt. Es gibt zu viele Prozesse, die zu erfassen sind: Die eigene Zusammensetzung des Körpers und natürlich jegliche Umwelteinflüsse – auch das nur vage voraussagbare Wetter – nehmen in jedem Augenblick des Daseins auf die Gedanken und Gefühle des Menschen Einfluss.
Xenia: Also hier die Bestätigung: Der Menschen ist Teil eines physikalisch determinierten Systems. Aber es ist kein System, welches wir in der Lage sind, hinlänglich zu erfassen.
Magnus: Ja. Stellen wir uns folgendes hypothetische Szenario vor. Alle Gesetze der Physik sind vollends erforscht, das heißt, wir verfügen über „die Weltformel“, und ich verfüge des Weiteren über einen omniszienten Super-Computer. Basierend darauf, dass der Computer wirklich jedes Ding in unserem Universum erfassen kann – die fernsten Sterne und die Bewegung jedes noch so kleinen Partikels – könnte er unter Anwendung der Weltformel tatsächlich auch exakte Vorhersagen über die mentalen Zustände eines jeden Menschen machen.
Xenia: Ich habe gehört, dass es in der Physik auch Zufallsprozesse gibt. Spielen sie in der Quantenphysik keine fundamentale Rolle? Beim radioaktiven Zerfall? Bei der Quanteninformationsverarbeitung? Auch in biologischen Systemen sollen zufällige Prozesse allgegenwärtig sein.[5] Müsstest du den Zufall dann nicht notwendigerweise auch in dein Szenario einschließen?
Magnus: Das stimmt wohl. Ich habe der Einfachheit halber darauf verzichtet. Auf dieser Ebenen würde mein Beispiel mit dem Super-Computer unendlich komplexer werden. Der Computer könnte Gedanken dann nicht vorhersagen, würde aber ein gigantisches Baumdiagramm mit möglichen Verläufen, möglichen Gedanken, wiedergeben. Zufall ist in meinen Augen aber nicht mit Willensfreiheit gleichzusetzen, und der von mir wiedergegebene Materialismus würde dem Zufall auch nicht zum Opfer fallen – wir würden trotzdem von Zufällen auf grundlegend materieller Ebene sprechen.
Xenia: Gut, so kann ich deinen Materialismus besser nachvollziehen. Dieser kleine Ausflug hat mir geholfen. Es scheint mir eindeutig kein Monismus zu sein, der auch nur den geringsten Raum für einen Dualismus zulässt. Jetzt würde ich gerne nochmal auf deinen Seelen-Begriff zurückkommen. Du hast gesagt, die Seele sei für dich identisch mit den Gehirnprozessen, die das Fühlen und Denken verantworten, und so scheust du nicht davor zurück, den Seelen-Begriff zu verwenden, obwohl du dich als Materialisten identifizierst.
Magnus: Wenn wir unter „Seele“ die Gesamtheit aller Gefühlsregungen und geistiger Vorgänge des Menschen verstehen, bin ich bereit, sie als Begrifflichkeit anzunehmen. Die Seele ist dann, nach meinem Verständnis, einfach ein Sammelbegriff für materielle Prozesse einer bestimmten Natur. Ich betone überflüssigerweise: Ich bin selbstverständlich nicht der Ansicht, die Seele sei ein immaterielles und unsterbliches Ding.
Xenia: Eine letzte Bestätigung deinerseits bitte: Du behauptest also, dass die Seele, nach deiner Definition, ein Seiendes ist?
Magnus: Durchaus, ja. Die Seele, wie ich sie fasse, existiert.
Xenia: Auch Platons Giganten sehen die Seele als etwas Seiendes an, da sie die Seele als etwas Körperliches definieren. Würdest du mit mir mitgehen, wenn ich dir die Fragen stelle, die Platons Fremder den Giganten stellt? Ich würde gerne sehen, ob dein moderner Materialismus seinen Proben standhalten kann.
Magnus: Sicher.
Xenia: Wunderbar. Würdest du den folgenden Prämissen zustimmen?
Magnus: Keine Einwände. Aber lass mich die Prämissen nochmal nach meiner Art wiedergeben. (1) Es gibt keinen Grund, ein Tier nicht als existierend anzunehmen, denn es ist leibhaftig. Es ist ein Körper – ich sage hier bewusst nicht: Es hat einen Körper. Außerdem ist ein Tier lebendig [7], und was lebendig ist, ist sterblich. (2) Die Seele habe ich ja bereits als dasjenige definiert, was Gehirnprozesse einer bestimmten Natur unter sich fasst. Wenn wir hier ein sterbliches Tier vor uns haben – nehmen wir den Menschen, so werden gewiss Gehirnprozesse, die unter die Kategorie „Seele“ fallen, in ihm vorgehen. Umgangssprachlich könnte ich so durchaus sagen: Der Mensch ist beseelt. (3) Letzterem habe ich ja bereits ausführlich zugestimmt: Die Seele existiert.
Xenia: Dann möchte ich jetzt ein anderes Anliegen angehen, denn wir haben bis jetzt hauptsächlich über das Seiende gesprochen. Was ist nach deiner Auffassung etwas, das nicht existiert?
Magnus: Immaterielles. Ein Begriff, der keinen physikalischen Prozess unter sich fasst.
Xenia: Die Seele, die du beschreibst, existiert, weil sie physikalische Prozesse unter sich fasst. Die immaterielle Seele, die keine physikalischen Prozesse unter sich fasst, existiert hingegen nicht.
Magnus: Korrekt.
Xenia: Könntest du das näher erläutern? Dem einen Rahmen geben, wie ich es zuvor mit meinem Orca- und Hippokamp-Beispiel gemacht habe? Wie steht es mit Dingen, denen du eine mögliche Existenz zusprichst, die aber im Augenblick nicht gegeben sind? Ich habe ja zuvor gesagt, dass in etwa 50.000 Orcas existieren. Sie existieren auf die Art, die deinen Voraussetzungen für Existenz entsprechen. Ich könnte nun aber sagen, dass theoretisch auch 100.000 Orcas existieren könnten. Wie würdest du die zusätzlichen, theoretischen und damit praktisch immateriellen 50.000 Orcas zuordnen? Existieren sie im selben Grade nicht, wie die immaterielle Seele nicht existiert?
Magnus: Du möchtest wohl wissen, ob ich es generell für Unfug halte, von etwas zu sprechen, dass nicht gegeben ist? Ich säge nicht am Ast, auf dem ich sitze. Ich vertrete keinen Materialismus, der mich daran behindern würde, Möglichkeitsaussagen zu treffen. Was wäre ein Denker ohne Fantasie? Da würde mir für meine Überlegungen ja auch noch alles außer dem Jetzt abhandenkommen. Ich könnte nicht davon sprechen, dass Dinosaurier existiert haben, weil der Begriff „Dinosaurier“ jetzt auf der Erde nicht das lebendige Wesen unter sich fassen könnte, dass er bezeichnet. Ich bin selbstverständlich dazu bereit, von Existenzen in der Vergangenheit, alternativen Zuständen der Gegenwart und von möglichen Zukunftsszenarien zu sprechen. Mir ist lediglich wichtig, dass wir nicht ernsthaft von Dingen sprechen, die dem Immateriellen einen Existenzraum geben. Gehen wir auf dein Beispiel ein. Die zusätzlichen 50.000 Orcas fassen, trotz ihrer aktuellen Nichtexistenz, begrifflich etwas Physisches unter sich. Im Kern will ich damit sagen: Deine Orcas existieren nicht im selben Grade nicht, wie die immaterielle Seele nicht existiert.
Xenia: Schwierig …
Magnus: Ich bin, à la Frege, in der Lage, zu sagen: „Die Venus hat 0 Monde“ oder es gibt keinen Venusmond. [8] Wenn ich „Venusmond“ sage, weißt du ja, dass der Begriff etwas potenziell Physisches unter sich fasst – unabhängig davon, ob du weißt, dass er existiert oder nicht. Der Begriff „immaterielle Seele“ kann nichts Physisches unter sich fassen, und damit auch nichts, wovon wir sinnvoll sprechen könnten.
Xenia: Gebe es vielleicht einen Weg, diesen Unterschied sprachlich auszuweisen? Am Ende bist du ja derzeit doch auf gleiche Weise gezwungen, zu sagen: Theoretische Orcas und immaterielle Seelen existieren nicht. Ich befürchte, das führt später noch zu einem Missverständnis.
Magnus: Guter Punkt. Wie wäre es dann, wenn wir zum Zweck unseres Gesprächs einen weiteren Begriff einführen? Ich spreche ab sofort von „an-“ und „abwesend sein“ bei Dingen physischer Begrifflichkeit und von „Nichtexistenz“ bei allem, was immateriell ist. Dieser Definition nach wären deine Orcas dann abwesend und die immaterielle Seele existierte nicht.
Xenia: Das heißt, du möchtest klarstellen, dass bei immateriellen Konzepten, auch nicht die Rede davon sein kann, dass sie an- oder abwesend sind?
Magnus: Das stimmt so.
Xenia: Danke für die Klarstellung. Dann würde ich hiermit gerne zu Platon zurückkehren. Der Fremde führt an der Stelle, wo wir uns nun argumentativ befinden, den Tugend-Begriff ein. Er fragt, ob die Seele eines Menschen bestimmte Tugenden hat? Wie genau würdest du, wenn du gewillt bist, Tugenden in deiner materiellen Seele unterbringen?
Magnus: Gerne möchte ich es versuchen.
Theo: Wir können bei Magnus‘ Materialismus wirklich nicht von den eher schwachsinnigen Giganten sprechen, die Platons Fremder mit Leichtigkeit auf den Arm nimmt. Er schlägt dir keine Begrifflichkeiten aus der Hand, nur weil sie für gewöhnlich metaphysisch konnotiert sind.
Xenia: Ob sie weit auseinander gehen, bleibt abzuwarten, wenngleich ich auch zugeben muss, dass Magnus‘ Materialismus bis hierher noch nicht offensichtlich unvernünftig oder schwach erscheint.
Magnus: Bevor wir fortfahren, bräuchte ich zunächst ein Verständnis davon, was für unser Szenario unter „Tugenden“ fällt.
Xenia: Bleiben wir der Einfachheit halber bei den klassischen Kardinaltugenden und lass uns diese auch, über die Alltagssprache hinaus, nicht weiter hinterfragen. Ich will es vermeiden, auch noch die moralphilosophische Büchse der Pandora zu öffnen. Wir sprechen bei Tugenden demnach von Weisheit, Tapferkeit, Mäßigung und Gerechtigkeit. Wähle für deine Auseinandersetzung gerne eine Tugend, die dir recht ist.
Magnus: Dann nehme ich die Gerechtigkeit und kaufe den Tugend-Begriff damit ein. Ich würde sagen, dass eine bestimmte Menge der Gesamtheit aller Gefühlsregungen und geistigen Vorgänge, eine bestimmte Teilmenge der Seele, die Tugend „gerecht zu sein“ darstellt. Lass mich dir das mithilfe eines Diagramms erläutern.
Magnus nimmt einen Stapel Servietten vom Tresen und zückt einen Kugelschreiber aus der Tasche. Er zeichnet auf die Schnelle einige Diagramme, die er vor Xenia und Theo ausbreitet.
Magnus: Sagen wir, dass die Seele S, eine konkrete Seele, eine Teilmenge von dem All A ist, das alle Materie und Energie, alles Physikalische, darstellt (S ⊂ A). Das heißt, S selbst ist eine bestimmte Teilmenge an Materie und Energie, genauer: S sind Gehirnprozesse, die das Fühlen und Denken eines Menschen verantworten.
[1] Platon. Sophistes. [246b].
[2] Magnus fährt hier unausgesprochen mit der Substanzdefinition fort, die zuvor von Xenia angegeben wurde (Prolog, S. 9).
[3] Unter „Denken“ versteht Magnus wahrscheinlich die Beschäftigung mit Vorstellungen, Erinnerungen und Begriffen, mit dem Zweck eine Erkenntnis zu gewinnen. [Nachtsheim, S. (1984). Philosophisches Wörterbuch. Herausgeber: Schischkoff, G. Philosophischer Literaturanzeiger.]
[4] Es ist anzunehmen, dass Magnus hier auf das Konzept des „unbewegten Bewegers“ von Aristoteles verweist.
Aristoteles (1989). Metaphysik. Buch XII. Übersetzung: Bonitz, H. Herausgeber: Seidl, H. Felix Meiner Verlag.
[5] Xenias Einwurf, dass Zufallsprozesse eine entscheidende Rolle bei der Vorhersagbarkeit von Denkprozessen und damit auch für die Frage der Willensfreiheit spielen, ist höchstwahrscheinlich von Hans J. Briegel inspiriert.
Briegel, H. J. (2012). On creative machines and the physical origins of freedom. Scientific reports, 2 (1), S. 522.
[6] Platon. Sophistes. [246e -247a].
[7] Magnus meint hier das alltagssprachliche „lebendig sein“. Er will die Begrifflichkeit wohl nicht weiter auspacken, um nicht vom Thema abzuweichen.
[8] „Am deutlichsten ist dies vielleicht bei der Zahl 0. Wenn ich sage: »die Venus hat 0 Monde«, so ist gar kein Mond oder Aggregat von Monden da, von dem etwas ausgesagt werden könnte; aber dem Begriffe »Venusmond« wird dadurch eine Eigenschaft beigelegt, nämlich die, nichts unter sich zu befassen.“
Frege, G. (2011). Die Grundlagen der Arithmetik. Reclam Verlag. S. 81. III. Über Einheit und Eins; §46.
Abbildung 1: 1. Serviette (Magnus)
Magnus: Eine Tugend T wäre eine Teilmenge von der Seele S (T ⊂ S), und Tugenden würden entsprechend eine bestimmte Teilmenge an Gehirnprozessen, also an Gefühlsregungen und geistigen Vorgängen, unter sich fassen – – nämlich alle Gefühlsregungen und geistigen Vorgänge, die wir als tugendhaft bezeichnen.
Abbildung 2: 2. Serviette (Magnus)
Xenia: Interessant. Um sicher zu sein: Dein Tugendbegriff, und damit auch Gerechtigkeit, sind nach deiner Auffassung ein Existierendes, weil sie eine Teilmenge der „materiellen“ Seele darstellen.
Magnus: Richtig, denn meine Gerechtigkeit fasst grundlegend physikalische Prozesse unter sich.
Xenia: Könntest du anhand eines bestimmten Falls, nicht pauschal, nochmal erläutern, was das bedeutet?
Magnus: Gut. Nehmen wir einfach an, wir haben hier einen tugendhaften Menschen vor uns. Er heißt Freddy und Freddy ist gerecht. Was bedeutet es, dass Freddy gerecht ist? Er handelt auf eine Weise, die gerecht ist. Wir haben entschieden, hier nicht weiter zu bohren. Ich sage einfach, dass die Grundbedingung dafür, dass ein menschliches Verhalten als gerecht gilt, ist, dass Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt wird. Sagen wir, Freddy hat also physikalische Prozesse in seinem Gehirn, die steuern, dass er, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt. Da die Gerechtigkeit in diesem Fall eindeutig aus physikalischen Prozessen besteht, kann ich auch behaupten, dass Tugend existiert.
Xenia: Verstanden. Vorher hast du bei deiner Erklärung zum Seins- und Existenzbegriff noch die Begriffe der An- und Abwesenheit hinzugenommen. Du hast gesagt, dass etwas, das existieren kann und potenziell etwas Physisches unter sich fasst, an- oder abwesend sein kann. Besser noch: Wenn etwas ein Seiendes ist, kann es anwesend oder abwesend sein.
Magnus: Ja, das stimmt so.
Xenia: Dann müsste ja auch eine Tugend, die du als existierend anerkannt hast, in der Seele an- und abwesend sein können – in unserem Fall die Gerechtigkeit. Könnte ich dann nicht sagen, dass beispielsweise Gerechtigkeit TG in Freddys Seele abwesend ist? Dass Gerechtigkeit TG keine Teilmenge der Seele S ist (TG⊄ S)?
Xenia nimmt Magnus‘ Stift und skizziert.
Abbildung 3: 3. Serviette (Xenia)
Xenia: Wo genau aber ist die Gerechtigkeit, wenn sie nicht in Freddys Gehirn in Form von Gehirnprozessen anwesend ist? Kriegst du hier nicht doch ein Problem? Was ist Gerechtigkeit, wenn sie keine tatsächlichen Gehirnprozesse unter sich fasst?
Magnus: Den Fehler machst hier, du. Ich kann ja auch nicht sinnvoll bestimmen, was das Atmen als Prozess außerhalb der Lunge darstellt. Was ist ein Gehirnprozess außerhalb des Gehirns? Du machst es dir zu einfach, wenn du einen Prozess einem Ding gleichsetzt, welches hier und dort sein kann. Auch deine Zeichnung ist hier falsch. Entweder es gilt TG⊂ S, oder es heißt TG ist abwesend. „Abwesend“ heißt, meiner Definition nach, nicht einfach „woanders“. Gerechtigkeitkann auch nicht eine Teilmenge des Alls sein (TG⊂ A) und zugleich keine Teilmenge der Seele sein (TG ⊄ S), denn S ist der einzige „Ort“, an dem TG potenziell anwesend sein kann.
Xenia: Und Folgendes würdest du natürlich auch nicht annehmen. Nämlich, dass TG, wenn es keine Teilmenge von S und A ist, als Form oder Idee, Teil des metaphysischen Alls M wäre. Das würde in etwa so aussehen.
Xenia skizziert.
Abbildung 4: 4. Serviette (Xenia)
Xenia: So gelte einerseits: TG ⊂ S; S ⊂ F; F ⊂ A. Das heißt: Gerechtigkeit wäre, wenn sie anwesend ist, Teilmenge der Seele, die Seele wäre Teilmenge von Freddy und Freddy wäre eine Teilmenge des Alls. Außerdem existierte ein metaphysischer Raum, der nicht Teil des Alls wäre.
Abbildung 5: 5. Serviette (Xenia)
Xenia: Andererseits gelte: TG ⊄ S; S ⊂ F; F ⊂ A; TG ⊂ M. Das heißt: Gerechtigkeit wäre, wenn sie abwesend ist, keine Teilmenge der Seele oder des physischen Raums; die Gerechtigkeit wäre innerhalb des metaphysischen Raums anwesend.
Magnus: Selbstverständlich nehme ich das nicht so hin. Der metaphysische Raum ist ein Begriff, der nichts Physisches unter sich fasst, und damit sprechen wir von Nichtexistenz. Ich habe das bereits erläutert.
Magnus skizziert.
Abbildung 6: 6. Serviette (Magnus)
Magnus: Entweder es gilt: TG⊂ S; S ⊂ F; F ⊂ A. Oder es gilt: TG ⊄ S; S ⊂ F; F ⊂ A. Du kannst die Tugend schlicht nicht von der materiellen Seele, der Menge an Gehirnprozessen, die die Seele ist, getrennt sehen, denn sie ist nur hier eine potenzielle Teilmenge der Prozesse und nirgendwo außerhalb.
Xenia: Das mach Sinn, es ist schlüssig. Ich wollte dich bloß ein wenig auf die Probe stellen.[1]
Magnus: Und was nun? Was passiert bei Platon an dieser Stelle?
Xenia: Der Fremde behauptet, dass die Seele gerecht und ungerecht sein könnte und dass demnach Gerechtigkeit in einer Seele ebenso anwesend wie auch abwesend sein könnte. Weiter folgert er, dass nur das, was in etwas anwesend oder abwesend sein kann, auch ein Seiendes sein kann; Tugenden könnten der Seele innewohnen und präsent sein, ebenso wie sie in ihr abwesend sein könnten. Und auch die Giganten pflichten ihm bei, dass etwas, das anwesend oder abwesend sein kann, ein Seiendes ist. Das geht zunächst nicht mit dem entzwei, was auch du sagst. Dann fragt der Fremde aber, ob Tugenden und Laster sichtbar und tastbar seien, oder ob sie alle unsichtbar wären. Die Giganten gestehen, dass man schwer behaupten könnte, eine Tugend könnte sichtbar sein, und der Fremde fährt mit der Frage fort, was mit den unsichtbaren Dingen sei und ob sie einen Körper hätten. Das können die Riesen nicht eindeutig beantworten. Die Seele, wenn auch unsichtbar, schiene durchaus einen Körper zu haben, was jedoch die Tugenden und Laster angehe, so sei es ihnen nun peinlich einzugestehen, dass sie sich nicht darauf einigen könnten, ob diese in den Bereich des Seienden und Körperlichen gehörten. Damit führt er sie eigentlich auch schon zum Widerspruchsbeweis: Sie müssen etwas Körperloses als seiend anerkennen. [2] Dem fällst du aber nicht anheim, wie ich feststelle.
Magnus: Korrekt. Ich würde nämlich nicht sagen, dass Tugenden unsichtbar, in anderen Worten, immateriell sind. Da Gehirnprozesse durchaus messbar sind und ich Tugenden als solche definiere, gibt es für mich kein Problem. Wobei ich annehme, dass wir empirisch noch nicht so weit sind, zu zeigen, dass genau eine konkrete Reaktion, die wir messen können, für die Gerechtigkeit steht. Was hier nicht ist, wird aber sicher werden.
Xenia: Da du Tugend und Seele als materielle Teilmengen vordefinierst, kann der Fremde dir mit seinem Argument nichts.
Theo: Er vielleicht nicht, aber sicher andere, denn es gibt selbstverständlich aktuelle Kritiken, denen der Materialismus sich bis jetzt nicht stellen kann.
Xenia: Stimmt. Deshalb halte ich den Materialismus für eine nicht genügend begründete Antwort – auch wenn er den argumentativen Angriff von Platons Fremden gut abwehren kann.
Theo: Mir fallen direkt entscheidende Kritikpunkte ein, die dem Materialismus, in meinen Augen, das Garaus machen. Eines der Probleme des Materialismus ist, das Bewusstsein überhaupt zu erklären. Materialisten behaupten, dass mentale Phänomene letztendlich auf materielle Prozesse reduzierbar sind, und ich halte es für schwierig, die subjektive Qualität des Bewusstseins, das Phänomen der Erfahrung oder die Existenz mentaler Zustände, allein auf die Materie zu reduzieren. In meinen Augen hättest du eigentlich auch nicht einfach sagen können: Tugend oder Seele = bestimmte Gehirnprozesse. Das scheint mir fast naiv. Es erinnert mich an eine verfälschte Version von dem Ei des Kolumbus.
Magnus: Das Ei des Kolumbus?
Theo: Das Ei des Kolumbus kommt aus einer Anekdote und steht für eine überraschend simple Lösung für ein äußerst schwieriges Problem. Die Anekdote lautet wie folgt: Christopher Columbus wird nach seiner Rückkehr aus Amerika zu einem Mahl eingeladen, wo über ihn gespottet wird, weil eigentlich ein jeder beliebiger Amerika hätte entdecken können. Da bittet Columbus die Anwesenden, ein gekochtes Ei auf die Spitze zu stellen. Viele Versuche werden von den Anwesenden unternommen, aber niemand schafft es, das Rätsel zu lösen. Schließlich sind sie überzeugt, dass es sich um eine unmögliche Aufgabe handelt, und Columbus wird gebeten, es selbst zu versuchen. Er schlägt das Ei nun mit der Spitze auf den Tisch, sodass es leicht anbricht und stellt das Ei auf die geplättete Spitze. Als die Anwesenden dann protestieren, dass sie auch so hätten vorgehen können, hätten sie die Spielregeln verstanden, antwortet Columbus: „"Der Unterschied besteht darin, dass ihr es hättet tun können, während ich es getan habe.".“
Magnus: Ulkig. Und damit willst du was sagen?
Theo: Du bietest eine zu einfache Lösung für ein sehr komplexes Problem, indem du die Spielregeln ignorierst. Das Bewusstsein ist nicht auf Gehirnprozesse reduzierbar. Es ergibt sich das Problem der Qualia [3]. Es scheint mir unmöglich, die subjektive Qualität von Qualia auf materielle Prozesse zu reduzieren.
Magnus: Ich kann auch auf keinen Fall behaupten, dass der Materialismus keinen Raum für Kritik lässt. Er kann sich heute sicher nicht hinreichend aller Kritik stellen, die gegen ihn hervorgebracht wird; denn sonst könnten wir ihn einvernehmlich als Wahrheit, nicht als Theorie, annehmen. Er hat aber zugleich, gerade auf wissenschaftlicher Ebene, die größte Wahrscheinlichkeit, sich weiterzuentwickeln und zu beweisen. Außerdem müssen sich die anderen Theorien, der Idealismus und der Dualismus, nicht minder ernstzunehmender Kritik stellen.
Xenia: Ja, die Philosophinnen behaupten zwar, nach Wahrheit zu streben, die so viel mehr ist, als eine Theorie, aber am Ende arbeiten wir auch fast ausschließlich mit Theorien. Wir beschäftigen uns mit Aussagen, die möglichst viel erklären, aber wir haben keinen Anhaltspunkt dafür, dass sie allumfassend funktionieren. Wir sprechen auch in der Philosophie von einer Reihe von Annahmen, Konzepten und Hypothesen, die entwickelt werden, um ein kohärentes Gesamtverständnis des betrachteten Dings zu schaffen. In anderen Worten: Die Philosophin strebt nach einem harmonischen Weltbild.
Magnus: Genau darauf möchte ich auch hinaus. Es ist wichtig, sich dessen bewusst zu sein, dass Theorien, ungleich der Wahrheit par excellence, nicht statisch sind, und sich im Laufe der Zeit weiterentwickeln. Neue Erkenntnisse können dazu führen, dass Theorien angepasst oder auch verworfen werden. Die Wahrheit ist vollendete Erkenntnis.[4] Sie wird nicht angepasst und schon gar nicht verworfen. Ich bin am Ende bloß der Meinung, dass der Materialismus bessere Chancen hat, sich zu verteidigen, als seine Gegenspieler.
Xenia: Das soll mir auch schon reichen. Damit kann ich zwei Sachen festhalten. Erstens: Die Gigantomachie besteht seitens der Giganten eindeutig fort und es handelt sich bei ihnen heute klar um weitaus versiertere Kämpfer, die Platon nicht mit einer läppischen Reductio ad absurdum aus dem Weg räumen könnte.
[1] Was Xenia hier getan hat, zeichnet ein typisches Platon-Manöver nach.
[2] Hier ein Überblick über die Prämissen im Gespräch mit den Giganten in der Gigantomachie:
[P1Giganten] Genau dann, wenn etwas sichtbar und greifbar ist, ist es ein Seiendes.
[P2Giganten] Sein ist identisch mit Körper.
[P3 Giganten] Es existiert etwas, für das gilt: Es ist ein sterbliches Tier.
[P4 Giganten] Ein sterbliches Tier ist ein beseelter Körper.
[P5 Giganten] Die Seele ist ein Seiendes.
[P6 Giganten] Genau dann, wenn etwas in etwas anwesend oder abwesend sein kann, ist es ein Seiendes.
[P7 Giganten] Tugenden und Laster können in der Seele anwesend oder abwesend sein.
[P8 Giganten] Tugenden und Laster sind ein Seiendes.
[P9 Giganten] Tugenden und Laster sind nicht sichtbar oder greifbar.
Platon. Sophistes. [245e-249d].
[3] Mit „Qualia“ meint Theo den subjektiven Erlebnisgehalt von mentalen Zuständen. Ein bekanntes Problem in der Qualia-Debatte ist beispielsweise die Farbwahrnehmung.
Hoffmeister, J., Kirchner, F., & Michaelis, C. (1998). Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt.
[4] Philosophen neigen im Verlauf eines Gesprächs dazu, irgendwann ein wenig dramatisch zu werden. Hier ein gutes Beispiel dafür.
Theo: Widmen wir uns jetzt den Halbgöttern? Die wird man kaum so leichtfertig außer Gefecht setzen können.
Xenia: Machen wir doch zuerst einen Schwenk zu den Göttern Platons – wir wollen sie nicht einfach übergehen.
Magnus: Was passiert im Sophistes an dieser Stelle?
Xenia: An dieser Stelle bleibt eine der Prämissen, die bis hierher gegenüber den Giganten aufgestellt wurden, relevant; nämlich, dass die Seele ein Seiendes ist. Dazu kommt eine weitere Prämisse: Genau dann, wenn etwas ein Vermögen hat, etwas zu tun oder zu erleiden, ist es ein Seiendes. [1] Diese Prämisse wird ohne Einwände von den Giganten akzeptiert. Was denkst du darüber, Magnus?
Magnus: Gegen ein materielles Verständnis spricht das nicht. Ich nehme an, es ist gemeint, dass wir das „Vermögen etwas zu tun oder zu erleiden“ mit „in Wechselwirkung stehen“ übersetzen können. Alles im Universum beeinflusst sich gegenseitig. Das versteht man unter den Grundkräften der Physik: Wir sprechen von der schwachen Wechselwirkung, der starken Wechselwirkung, der Gravitation und von dem Elektromagnetismus. Das ist auch der Grund dafür, dass ich zuvor über den unbewegten Beweger gespottet habe.
Xenia: Nach den Giganten wendet sich der Fremde den Freunden der Formen [2] zu und lässt sich von ihnen bestätigen, dass sie die Begriffe des Werdens und des Seins unterscheiden. Sie sagen: Das Materielle ist ein Werdendes und das Immaterielle ein Seiendes. Das Werdende wird von dem Körper wahrgenommen, das Seiende von Geist und Seele. Materielles ist dynamisch, und Immaterielles gleich und beständig.
Theo: Darf ich kurz einhaken? Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, die Begriffe „Geist“ und „Seele“ synonym zu verwenden. Warum hast du sie gerade wieder im Einzelnen erwähnt?
Xenia: Das liegt daran, dass wir das nun in gewisser Weise rückgängig machen müssen – gerade, wenn wir uns Platon selbst widmen. Für Magnus‘ Materialismus hat diese Trennung keine Rolle gespielt und für meine Theorie gilt das auch. Platon war jedoch der Überzeugung, dass der Mensch sich in mehrere Teile gliedern lässt: den Körper, die Seele, und den Geist.[3] Der Körper repräsentiert den physischen Aspekt, durch den wir unsere Erfahrungen in der Welt machen; die Seele ist die identitäre, treibende Kraft des Körpers; und der Geist, der ein Teil der Seele ist, ist auf die himmlische Welt der Ideen ausgerichtet und unsterblich.
Theo: Ich hatte mich tatsächlich zuvor gefragt, ob du dir damit schadest, diese Unterscheidung aufzuheben – gerade, wenn du dich mit Platon beschäftigst.
Magnus: Identitäre, treibende Kraft? Ich brauche mehr als das. Wofür genau ist Platons Seele zuständig?
Theo: In seinen Dialogen spielt die Seele viele unterschiedliche Rollen. Unter anderem betrachtete Platon die Seele als das „Lebensprinzip des Körpers“[4] – anders konstatiert: als das Vermögen zur Selbstbewegung; hier hast du das Treibende. Außerdem vertrat er die Ansicht, dass die Seele die Trägerin moralischer Eigenschaften ist – zeichnet den identitären Moment aus … Ich muss aber zugeben, dass die Natur dieser Seele noch etwas von einem Mysterium hat. Einerseits interagiert sie stark mit dem Physischen, andererseits verfügt sie über einen Teil, den Geist, der Einsicht in die metaphysische Ideenwelt hat. Ausgehend von unseren vorherigen mengentheoretischen Betrachtungen scheint Platons Seele die Schnittmenge zwischen dem materiellen All A und dem immateriellen oder metaphysischen Raum M zu sein: A ∧ M = S.
[1] Platon. Sophistes. [247e].
[2] „Freunde der Formen“ ist eine andere Bezeichnung für die Anhänger der Ideenlehre.
[3] Platon konzeptualisiert die Seele selbst tatsächlich als eine dreifache Entität, bestehend aus dem Begehrenden, dem Tatkräftigen und dem vernünftig Lenkenden (der Geist). Die Dreiteilung spiegelt sich in seiner Darstellung von drei verschiedenen Arten von Menschen wider, wie sie in seinem Werk Der Staat beschrieben werden. Dieses Detail spielt für Xenias Erläuterung aber keine entscheidende Rolle.
Platon (1989). Der Staat. Übersetzung und Herausgeber: Bormann, K. Felix Meiner Verlag.
[4] Das wird besonders in Platons Werken Der Staat und Phaidros betont.:
Platon (1989). Der Staat. Übersetzung und Herausgeber: Bormann, K. Felix Meiner Verlag.
Platon. (2019). Phaidros. Übersetzung und Herausgeber: Paulsen, T., Rehn, R. Felix Meiner Verlag.
Abbildung 7: 7. Serviette (Theo)
Magnus: Der Begriff „metaphysischer Raum“ ist vage – auch in Bezug auf Platon. Die Frage aber ist: Wie wichtig ist das für unsere Auseinandersetzung mit der Gigantomachie?
Xenia: Wir müssen uns jetzt wirklich nicht das Gesamtwerk von Platon einverleiben. Sollte eine weitere Klarstellung notwendig sein, werde ich sie abliefern. Die grob umrissenen Grundlagen reichen für unser Vorhaben völlig aus. Nach Platon sind Ideen die eigentlichen Referenzobjekte von Universalien. Ähnlich wie der Ausdruck „dieser Orca“ auf ein konkretes, sinnlich wahrnehmbares Objekt in der materiellen Welt verweist …
Theo: Zum Beispiel, wenn ich an Deck eines kleinen Frachters stehe und auf einen Orca an der Küste von Tromsø zeige.
Xenia: Genau. Auf ähnliche Weise bezieht sich der Ausdruck „ein Orca“ auf die Idee des Orcas. Die Idee des Orcas ist vollkommen, jeder lebendige Orca, aber nur eine fehlerbehaftete Imitation der Idee. Man könnte entsprechend sagen, „dieser Orca“ ist ein Abbild und „ein Orca“ das Urbild.
Theo: Platons Vorstellung zufolge ist eine Idee ein wirklich existierendes Objekt in der Welt der Formen, oder, anders formuliert, in dem vorher erwähnten „"metaphysischen Raum".“.
Magnus: Wartet. Jetzt habe ich eine wichtige Frage. Ihr habt nun beide in Bezug auf Platon von zwei voneinander getrennten Welten gesprochen. Könnt ihr erklären, weshalb Platon zugleich auf eigenartige Weise Monist und Dualist war? Das hat mich auch schon zuvor beschäftigt.
Xenia: Es ist so. Platon ist tatsächlich der Begründer des Leib/Seele-Dualismus.[1] Dabei spreche ich aber nicht davon, dass er einen ontologischen und epistemischen Dualismus vertreten hat. Platon spricht zwar getrennt von dem Materiellen und dem Immateriellen, aber er ordnet die Materie eindeutig der Ideenwelt unter. In Platons Ideenlehre wird die Existenz der äußeren Welt, zumindest in der von uns wahrgenommen Form, geleugnet, während gleichzeitig an die übergeordnete Existenz einer metaphysischen Realität geglaubt wird, die erkannt und anderen mitgeteilt werden kann. Wahrheit und Wirklichkeit spielen sich für Platon eindeutig in einem nicht materiellen Raum ab.
Theo: Im Grunde müssten wir hier auch zwischen zwei Idealismus-Haltungen unterscheiden: Der metaphysische Idealismus besagt, dass nur eine Art von Substanz, die immaterielle Substanz, existiert; der epistemologische Idealismus besagt, dass es nur eine Art von Substanz gibt, die erkannt werden kann. Platon vertritt einen ontologischen Dualismus und einen epistemologischen Idealismus, und Fakt ist, der epistemologische Idealismus ist dem Materialismus nicht so radikal gegenübergestellt, wie der metaphysische. Während der Materialist Magnus sagt, dass Immaterielles nicht existent ist, sagt der epistemologische Idealist Platon bloß: Wir können über Materie keine wesentlichen Erkenntnisse gewinnen.
Magnus: Zusammengefasst ist Platon also ein Dualist, da er die Existenz zweier verschiedener Substanzen annimmt, aber er ist auch ein Idealist, da er die Ideen als wesentliche Wirklichkeit betrachtet. Das heißt auch, Platons Ideenlehre ist keine Form von Idealismus, die versuchen wird, dafür zu plädieren, dass Materielles nicht existent ist; aber für eine Art von Idealismus haltet ihr das Ganze nichtsdestotrotz?
Theo: Korrekt.
Xenia: Wenn keine weiteren Einwände vorliegen, würde ich nun gerne zur Gigantomachie zurückkehren. Wie bereits zuvor besprochen, geht es an dieser Stelle um das Thema: Werden und Sein.
Magnus: Ah, ja, das Werdende … Noch so ein schönes Wörtchen.
Xenia: Ja, ja, sei nicht so ungeduldig, ich bin schon dabei es zu umreißen und hatte ja auch bereits vor unserem letzten kurzen Exkurs zu deiner Frage damit begonnen. Das Sein ist ein Teil der Wesensnatur einiger abstrakter Entitäten …
Magnus räuspert sich.
Theo: Sie meint Ideen. Das müsste klar sein.
Xenia: Dann so: Das Sein ist ein Teil der Wesensnatur von Ideen, die im metaphysischen Raum, in der Ideenwelt, existieren und dort unwandelbar bestehen. Das Werden, oder auch das Wandelbar-Sein, ist ein Teil der Wesensnatur materieller Objekte.
Magnus: Du willst wieder sagen: Veränderung im Raum und in der Zeit zu erfahren, ist eine Eigenschaft materieller Objekte. „Werden“ heißt demnach „Veränderung erfahren“. Das verstehe ich.
Xenia: Und das heißt dann auch, dass die Götter der Prämisse, dass etwas, das ein Vermögen hat, etwas zu tun oder zu erleiden, ein Seiendes wäre, nicht zustimmen können.
Magnus: Für sie zeichnet ein derartiges Vermögen ein Werdendes aus.
Xenia: Genau. Darauf fragt der Fremde die Götter, ob sie zustimmen, dass die Seele erkennt und, dass Seiendes erkannt werde.
Theo: Sie bestätigen es sicher und ich ahne auch bereits, dass eine Falle auf sie wartet.
Xenia: Ja, sie stimmen zu, und der Fremde erwidert, ob die Seele erkenne und Seiendes folglich von ihr erkannt werde.
Theo: Und auch hier stimmen sie zu: Ja.
Xenia: Da „erkennen“ und „erkannt werden“ als Tätigkeiten oder Erfahrungen interpretiert werden können, fallen sie unter die Kategorie des Tuns und Erleidens. Wenn Erkennen als ein Tun, und Erkannt-Werden als ein Erleiden, betrachtet wird, bedeutet das, dass das Seiende das Vermögen hat, etwas zu tun oder zu erleiden.
Theo: Hier der Widerspruch. Sie widersprechen sich darin, die Vermögensprämisse abgelehnt zu haben. Damit ist es für sie vorbei.[2]
Magnus: Das ist das Fazit? Aber das passt ja gar nicht zur Ansicht Platons, dass Seiendes unwandelbar ist.
Xenia: Nein, das ist nicht die Schlussfolgerung. Die Debatte endet mit der Einsicht, dass wir das Ruhende und das Bewegte auf gewisse Weise in das Sein einschließen müssen.
Magnus: Wie das?
Xenia: Das ist recht kompliziert und die Stelle nicht eindeutig ausgelegt. Es gibt in Expertenkreisen viele mögliche Interpretationen dieser Passage. Das liegt daran, dass Platons eigene Ansichten von Dialog zu Dialog nicht unmittelbar einheitlich erscheinen. Ich kann euch kurz meine, vielleicht zu simple, Interpretation anbieten, denn es würde völlig den Rahmen sprengen, wenn wir hier in die Tiefe gehen. Ich kann euch später einen fantastischen Essay zu dem Thema zuschicken – sollte euch danach sein, tiefer zu graben. [3]
Magnus: Soll uns recht sein.
Xenia: Wir haben ja zuvor festgehalten, dass die Seele ein Seiendes ist. Das hat weder Gigant noch Gott bestritten. Nun müssen die Götter aber eingestehen, dass die Seele, und in ihr der Geist, auch ein dynamisches Wesen haben – den Weg dahin habe ich eben skizziert. Damit wäre die Seele per definitionem ein Werdendes; nicht anders als der Körper. Die Seele ist für die Götter aber nicht wesensgleich mit dem Körper und kann unmöglich lediglich ein Werdendes sein; schließlich hat sie Zugang zur Ideenwelt. Hier also die Lösung: Die Einsicht, dass Stagnation UND Dynamik zum Sein gehören müssen. Das ermöglicht es den Göttern, die Seele weiterhin als ein Seiendes zu betrachten. Die Seele bewegt sich mit dem Körper durch Raum und Zeit und kann doch durch ihren geistigen Teil in die ruhende Ideenwelt eintreten und Erkenntnisse gewinnen. Damit ist auch die Ideenwelt, in die eingetreten wird, nicht völlig unbewegt, sondern nimmt Bewegung in sich auf, und wird erkannt.
Theo: Damit soll wohl gesagt sein: Materielles ist weiterhin ein Werdendes und Bewegtes, und Ideen weiterhin ein Seiendes und Beständiges. Die Seele aber ist ein Sonderfall, den wir als ein Seiendes annehmen, weil sie zugleich Bewegtes und Unbewegtes repräsentiert.
Xenia: Ja, kurz und bündig kommt genau das dabei raus. Damit ist deine Idee, die Seele als Schnittstelle darzustellen, ziemlich treffend gewesen.
Alle drei nippen an ihrem Bier und schweigen eine Weile. Sie grübeln vor sich hin.
Magnus: Jetzt haben wir, wohl oder übel, einen Einblick ins Gemisch von erkenntnistheoretischem Idealismus und ontologischem Dualismus von Platon erhalten. Weshalb aber, wollen wir uns nun einem anderen Dualismus widmen? Siehst du dich nicht in der Lage dazu, dieses Konglomerat zu verteidigen, Theo?
Theo: Nicht aus Überzeugung. Du musstest ja auch nicht den antiken Atomismus verteidigen, sondern einen modernen Materialismus, der deinem Vernunftanspruch genügt. Ich finde nicht, dass der Idealismus, sei es auch ein epistemischer, sich zufriedenstellend der Kritik, der er zum Opfer fällt, stellen kann. Vom ontologischen Idealismus will ich gar nicht erst anfangen.
Magnus: Da kann ich nur zustimmen, aber wir wollen es dir doch nicht zu leicht machen. Nenne uns zumindest die Kritik, die du für entscheidend hältst.
Theo: Der Idealismus steht im Allgemeinen dem metaphysischen Solipsismus gefährlich nah, und das halte ich für eine äußerst unattraktive Sichtweise der Dinge. Mir ist bewusst, dass sich der Solipsismus nicht widerlegen lässt, aber er lässt sich ja auch nicht beweisen. Meine Intuition sagt schlicht: Er ist falsch. Der Idealismus scheint keine ausreichende Evidenz für die Existenz von Materie zu sehen, jedoch ist das Vertrauen in die Existenz einer externen Welt mindestens nützlich. Am Ende würde ich wie Blaise Pascal argumentieren.[4] Er sagte über den Glauben an Gott, es sei vernünftig, vorsichtshalber an Gott zu glauben, da eine solche Haltung im Falle eines existierenden Gottes tatsächlich belohnt und im Gegenzug der Nichtglaube bestraft werden könnte. Ich denke, der Glaube an die externe Außenwelt lohnt sich auf analoge Weise. Glaubt man an die Außenwelt, wie wir sie wahrnehmen und wie sie existiert , haben wir gute Chancen „zu überleben“.
Xenia: Darf ich mit einem Beispiel helfen? Kommt ein Auto auf mich zugerast, tue ich gut daran, mich in Sicherheit zu bringen und es nicht darauf ankommen zu lassen. Ich, tue gut daran, nicht anzunehmen, meine Wahrnehmung würde mich trügen.
Theo: Glaubt man wiederum an die Außenwelt und sie existiert nicht, hat man in meinen Augen nichts zu verlieren. Denn wäre die materielle Wirklichkeit tatsächlich bloß Illusion, wäre sie eine Illusion exakt der Welt, die wir wahrnehmen. Es wirkt für mich zumindest nicht so, als würde uns das mehr Handlungsraum geben. Es scheint mir, wir könnten die Illusion nicht abschalten und in einer anderen, uns angenehmeren, Welt leben. Glaubt man nicht an die Außenwelt und sie existiert nicht, sehe ich auf ähnliche Weise keinen Gewinn darin.
Xenia: Außer vielleicht die Erkenntnis einer unnützen Wahrheit? Aber was hätte ein Gehirn im Tank tatsächlich von der Erkenntnis, dass es eines ist – vorausgesetzt eine solche Erkenntnis wäre überhaupt möglich?
Theo: Ja, und glaubt man nicht an die Außenwelt und sie existiert, müsste man sich seelenruhig von dem Auto überfahren lassen …
Xenia: Und zahlt folglich einen hohen Preis.
Magnus: Ich muss sagen, dass es mir zuwider ist, dass du die Existenz der ganzen Welt auf dieselbe Ebene der Evidenzlosigkeit wie Gott stellst.
Theo: Aber das ist doch der Punkt. Wenn jemand nicht auf seine Sinne vertraut, inwiefern ist Gott dann eine fraglichere Angelegenheit als die Außenwelt?
Magnus: Verstehe.
Theo: Ich habe die Sache mit der Kritik jetzt natürlich auf die Spitze getrieben – mir ein einfaches Spiel daraus gemacht. Es wäre selbstverständlich voreilig zu sagen, Philosophinnen hätten im Laufe der Geschichte keine Formen des Idealismus entwickelt, die diese Herausforderungen ernstgenommen hätten. Aber für mich bleibt es dabei: Ich finde den Idealismus nicht überzeugend. Ich habe allerdings auch nicht den Eindruck, dass es heute eine starke Idealismus-Strömung in der Philosophie gibt; nach der Epoche des Deutschen Idealismus hat der Idealismus nie wieder eine dominante Position in der Debatte eingenommen. [5]
Magnus: Gut, die Götter sollen damit erstmal abgetan sein und deswegen erfolgt jetzt die Kriegserklärung an die dualistisch gesinnten Halbgötter.
Theo: Richtig. Nun, denn. Fordere mich heraus, Xenia.
[1] Robinson, H. (2008). Dualism. Stanford Encyclopedia of Philosophy. plato.stanford.edu: https://plato.stanford.edu/entries/dualism/. Abgerufen am 23.09.2023.
[2] Hier ein Überblick über die Prämissen im Gespräch mit den Göttern in der Gigantomachie:
[P1Götter] Genau dann, wenn etwas eine immaterielle Form ist, über die man nachdenken kann, ist es ein Seiendes. (Oder: Genau dann, wenn etwas von Geist und Seele wahrgenommen wird, ist es ein Seiendes).
[P2 Götter] Genau dann, wenn etwas materiell ist, ist es ein Werdendes. (Oder: Genau dann, wenn etwas von einem Körper wahrgenommen wird, ist es ein Werdendes).
[P3 Götter] Genau dann, wenn etwas beständig und unverändert bleibt, ist es ein Seiendes.
[P4 Götter] Genau dann, wenn etwas sich verändert, ist es ein Werdendes.
[P5 Götter] Die Seele erkennt und Seiendes wird erkannt.
[P6 Götter] Genau dann, wenn etwas ein anderes erkennt, wird jenes andere erkannt. (= Erkennen und erkannt werden heißt tun und erleiden, was ein bewegter Zustand ist).
[P7 Götter] Genau dann, wenn sich etwas verändert und sich bewegt, ist es ein Seiendes. […]
Platon. Sophistes. [245e-249d].
[3] Xenia verweist auf den folgenden Essay:
Larsen, J. K. (2014). The Virtue of Power – The Gigantomachia in Plato’s Sophist 245e6-249d5 Revisited. Academia.edu: https://www.academia.edu/10942501/The_Virtue_of_Power_The_Gigantomachia_in_Plato_s_Sophist_245e6_249d5_Revisited. Abgerufen am 23.09.2023.
[4] Pascal, B. (2016). Gedanken über die Religion. Übersetzung: Blech, K. A. Hofenberg Verlag. Zweiter Theil: Gedanken, welche sich unmittelbar auf die Religion beziehen. Dritter Abschnitt: Daß es schwer ist das Dasein Gottes durch die natürlichen Geisteskräfte zu beweisen; aber daß das Sicherste ist es zu glauben.
[5] Ein Philosoph, der in heutiger Zeit idealistische Ansichten vertritt, ist u.a. Slavoj Žižek, der in seinem Buch Weniger als nichts: Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus eine Reaktualisierung Hegels unternimmt. Es ist darüber hinaus wichtig zu betonen, dass der Idealismus zwar nicht mehr so prominent vertreten ist wie in der Vergangenheit, jedoch noch immer mit seinen Ideen und Einflüssen in den Arbeiten moderner Philosophen weitreichend präsent ist.
Pippin, R. B. (2016). Die Aktualität des Deutschen Idealismus. Suhrkamp Verlag. S. 403 ff.
Xenia: Sag mir doch zunächst ganz grob, was es für dich mit dem Leib/Seele-Dualismus auf sich hat.
Theo: Der Leib/Seele-Dualismus geht davon aus, dass Seele und Körper zwei getrennte Entitäten sind; Substanzen, denen unterschiedliche Eigenschaften, unterschiedliche Funktionen, zufallen. Die Seele ist in ihrem Wesen immateriell und fasst das Bewusstsein, die Gedanken und Gefühle, unsere subjektiven Erfahrungen, unter sich. Der Körper hat ein physisches Wesen und unterliegt den Naturgesetzen.
Xenia: Im Verlauf unseres Gesprächs hast du deutlich werden lassen, dass du viel an den Monismen des Materialismus und Idealismus, zu bemängeln hast. Worin hältst du den Leib/Seele-Dualismus für überlegen?
Theo: Der Idealismus hat sein Solipsismus-Problem, der Leib/Seele-Dualismus aber gesteht der „objektiv“ erfahrbaren Welt einen Existenzraum zu. Außerdem berücksichtigt er, im Gegensatz zu einer materialistischen Sichtweise der Dinge, die nicht reduzierbare Natur des subjektiven Erlebens. Ich gebe zu, wir können messbare Gehirnaktivitäten auf eine beschränkte Art bestimmten Denk- und Gefühlsprozessen zuordnen; jedoch glaube ich nicht, dass wir diese Beschränktheit unserer Erkenntnis jemals durch einen wissenschaftlichen Fortschritt überbrücken werden können.
Xenia: Wie ist das gemeint?
Theo: Ich denke, was wir mit empirischen Mitteln messen können, sind Symptome und nicht die Sache selbst. Mit dem Gehirn – dem der Materialist alle Funktionen zuschreibt, die ich in der Seele lokalisiere – ist es an dieser Stelle nicht anders als mit dem ganzen Körper. Wenn eine Person wütend ist, können wir das als Erscheinung am ganzen Körper messen: Der Blutdruck und die Herzfrequenz erhöhen sich und die Muskeln sind angespannt. Aber diese körperlichen Erscheinungen sind nicht mit der Wut als Ding an sich gleichzusetzen. Messe ich einen erhöhten Blutdruck, eine erhöhte Herzfrequenz, Verspannungen in den Muskeln, und kann mit einem EEG neuronale Aktivitäten messen, die auf Wut hinweisen, kann ich noch immer nicht davon sprechen, die Wut an sich gemessen zu haben. Ich habe die Wut damit nicht lokalisiert – nur ihre körperlichen Symptome. Ich sage: Ob die Person in diesem Moment Wut erlebt, kann sie mir nur selbst mitteilen.
Xenia: Das heißt, die Symptome sind bloß Erscheinungen, die zwar einen guten Anhaltspunkt bieten, um auf das Ding an sich zu schließen, aber eben nicht zu einer wahren Aussage über den Zustand führen. Hätte ich jetzt zum Beispiel einen außerordentlich talentierten Schauspieler vor mir, der bloß so tut, als sei er wütend, könnte ich wahrscheinlich alle körperlichen Erscheinungen der Wut an ihm messen, aber, wie wir wissen, wäre er nicht wirklich wütend, sondern würde bloß sein schauspielerisches Handwerk ausüben. [1]
Theo: Genau. Der Materialismus hat keine Perspektive, das Phänomen „Qualia“ zu erklären. [2] Das ist, was ich sagen will. Erst der Dualismus bietet die notwendige Grundlage dazu.
Xenia: Und wodurch genau zeichnet sich diese Grundlage aus?
Theo: Der qualitative Charakter eines Erfahrungsinhaltes lässt sich aufgrund seiner nicht-physischen Wesenheit nicht durch Naturgesetze erklären, weil Qualia sich nicht auf neuronale Prozesse beschränken lassen. Was Qualia erklärt, ist eine Interaktion zwischen Seele und Körper; die Tatsache, dass die Seele Einfluss auf den Körper nimmt und umgekehrt.
Xenia: Der Hauptkritik, die du am Materialismus anbringst, ist dein Dualismus, deiner Ansicht nach, also gewachsen.
Magnus schnaubt belustigt.
Theo: Mehr noch. Der Dualismus behandelt auch das Problem der Identität im Gefüge der Zeit. Wie erklärt ihr euch, dass wir über die gesamte Lebenspanne hinweg ein einheitliches „Ich“ haben, obwohl der Körper sich stetig verändert? Wenn wir sagen, dass das Selbst in einer immateriellen, beständigen Seele lokalisiert ist, haben wir eine Antwort, weshalb unsere Identität trotz körperlicher Veränderungen konstant bleibt.
Xenia: Aber ich bin doch nicht dieselbe wie vor fünf Jahren! Glücklicherweise auch geistig nicht.
Theo: Ich will ja auch nicht sagen, dass du dich geistig überhaupt nicht veränderst. Lediglich, dass du dein Ich kontinuierlich wahrnimmst; dass du sagen kannst: „Das bin ich, das war ich, und das werde ich sein.“
Magnus: Und wie verhält es sich dann mit dementen Menschen?
Theo: Du triffst den Nagel auf den Kopf. Diese Frage ist eine große Herausforderung für den Leib/Seele-Dualismus. Menschen mit Demenz erfahren tatsächlich einen Verlust kognitiver Fähigkeiten und Persönlichkeitsveränderungen, die ihre kohärente Identität, infrage stellen. Ich möchte behaupten, dass die immaterielle Seele in solchen Momenten die zugrunde liegende Identität bewahrt, während die Auswirkungen der Erkrankungen lediglich den Körper betreffen.
Magnus: Wie meinst du das?
Theo: Ich glaube, ich hole mir hier Aristoteles zur Hilfe.
Magnus: Wir wollen hier doch eine „moderne“ Gigantomachie veranstalten und du schaltest Aristoteles ein?!
Theo: Der Knackpunkt ist, dass sie fortwährt, oder? Sie ist eben eine Überlebende aus der Antike.
Magnus: Na dann …
Theo: Aristoteles unterscheidet die einzelnen Körperteile des Menschen von der Funktionsfähigkeit der besagten Körperteile.[3] Damit ist gemeint, dass er zum Beispiel die Beine, von der „Fähigkeit zu gehen“ unterscheidet. Lass mich dir das in einem Beispiel veranschaulichen: Stellen wir uns einen begnadeten Marathonläufer vor, der über sämtliche Fähigkeiten eines Läufers verfügt. Angenommen, ein Unglück geschieht und der Läufer verliert beide Beine. Geht mit dem Verlust seiner Beine auch der Verlust seiner ursprünglichen läuferischen Fähigkeiten einher?
Magnus: Selbstverständlich.
Theo: Aristoteles würde behaupten, dass dies eben nicht der Fall ist. Der Läufer behält die Fähigkeit zu laufen, selbst, wenn seine Beine in Mitleidenschaft gezogen sind. Stellen wir uns nun vor, der Läufer erhielte hochmoderne Prothesen, die in ihrer Beschaffenheit den „Originalbeinen“ des Läufers gleichen würden. In einem solchen Fall müsste der Läufer nicht von Grund auf die Fähigkeit des Laufens neu erlernen, denn er hätte sie nie verloren.
Magnus legt seine Stirn in Falten.
Theo: Lass mich dir ein weniger abstraktes Beispiel aus der Moderne geben: Wenn wir die getrübte organische Linse alter Menschen durch eine künstliche Linse ersetzen, stellen wir fest, dass die Sehfunktion an sich nicht gealtert oder beeinträchtigt ist.
Magnus: Ganz einfach, weil im Gehirn, auf materieller Ebene, die entsprechenden Verbindungen weiterhin erhalten bleiben. Aber worauf willst du hinaus?
Theo: Aristoteles' Botschaft ist, dass es nicht die Funktion der Seele ist, die abnehmen kann, sondern das Werkzeug der Seele – der Körper. Wenn wir ohne Augen sehen oder ohne Füße gehen könnten, würden uns diese Funktionen erhalten bleiben. In der realen Welt bleibt uns aber lediglich selten die Möglichkeit, unsere „defekten“ Körperteile auszutauschen, um die Funktionen unserer Seele aktiv auszuüben.
Magnus: „Nicht gehen zu können“ möchtest du doch nicht ernsthaft mit Demenz gleichsetzen?!
Theo: Das Gehirn ist in meinen Augen – nicht anders als ein Bein – ein körperliches Mittel, das der Seele zur Ausübung ihrer Funktion zur Verfügung steht; es ist eine physische Einheit, die selbst keine Fähigkeiten verkörpert. Folgendes können wir beispielsweise bei der Alzheimer-Erkrankung beobachten: Üblicherweise sind zuerst die Synapsen betroffen und das führt dazu, dass die Kommunikation zwischen den Neuronen nicht mehr angemessen funktioniert; Informationen können nicht mehr effektiv verarbeitet oder weitergeleitet werden, und im Verlauf der Krankheit erfolgt ein fortschreitender Verlust ganzer Nervenzellen, was zu einem Abbau kognitiver Funktionen führt. Ich sage nun aber, dass die kognitive Fähigkeit an sich eine Funktion der Seele darstellt. Könnte ich die verlorenen Nervenzellen also künstlich ersetzen und die Synapsen erneuern, wäre der zuvor von Alzheimer betroffene Mensch wieder in der Lage, sich zu erinnern, und wäre kognitiv „wieder ganz bei sich“.
Magnus: Ich finde das Ganze absurd. Deine gesamte Ausgangsannahme ist, dass wir eine immaterielle Seele haben – welche Fähigkeiten du ihr auch immer zuschreibst – und diese Seele ist unbeweisbar. Du wirfst dem Idealismus vor, in Solipsismus zu verfallen, weil er sich darin verschuldet, eine These ohne möglichen Beweis und Gegenbeweis zu vertreten, und jetzt haust du uns, ohne mit der Wimper zu zucken, die unbeweisbare, immaterielle Seele auf den Tisch!
Theo: Aber wieso denn unbeweisbar?
Magnus: Was für ein Beleg kann dir überhaupt vorliegen?
Theo: Einer meiner Professoren an der HU, Olaf Müller, hat vor nicht allzu langer Zeit in seiner Vorlesung einen Seelenbeweis abgeliefert. Ich finde ihn schlüssig – ich habe mich überzeugen lassen.
Magnus: Na dann, lass hören.
Theo: Ich kann den kompletten Beweis in seiner ganzen Argumentationskraft nicht innerhalb von einigen, wenigen Sätzen wiedergeben – wir haben ein ganzes Semester damit zugebracht. Wenn ihr den Beweis in allen Details haben wollt, müsst ihr seinen Essay lesen.[4]
Magnus: Dann gib uns zumindest einen Einblick. Worin besteht der Beweis?
Theo: Sind wir bereit, zwei Prämissen zuzustimmen, können wir daraus folgern, dass wir jetzt eine immaterielle Seele haben.
Magnus: Ich bin bereit, darauf zu vertrauen, dass sich Derartiges logisch schlussfolgern lässt. Die Frage ist: Was sind die Prämissen?
Theo: Um den Beweis nicht an einer simplen Erinnerungslücke oder einem Wortdreher scheitern zu lassen, werde ich euch die Prämissen kurz im originalen Wortlaut vorlesen. Ich hatte sie mir notiert.
Theo blättert in einem Notizbuch, das er aus seiner Tasche holt, und räuspert sich.
Theo: Erstens: „Was auch immer vor meinem Tod mit mir de facto der Fall ist oder war, von mir getan wird oder getan worden ist, mit mir geschieht oder geschehen ist usw., stets vermag ich mir diese Tatsache zusammen mit meinem Tod und meiner körperlosen, aber seelischen Fortexistenz nach dem Tod vorzustellen.“ [5] Zweitens: „Es ist nicht möglich, dass ich zur Zeit t sterbe, danach noch ohne jeden Körper Erlebnisse habe und doch vorher nichts anderes war als ein Körper.“ [6]
Magnus: Dann beginnen wir damit, die Prämissen auseinanderzunehmen. Ich habe einen Einwand gegen die erste.
Xenia: Sehr gut. Mich sträubt es vor der zweiten.
Magnus: Wer sagt, dass ich mir das vorstellen kann? Eine seelische Fortexistenz nach dem Tod?
Theo: Ganz einfach kannst du dir das vorstellen. So einfach, dass sich sogar ein Film darüber drehen lässt – aus der Ich-Perspektive. Das haben drei meiner Kommilitonen gemacht. Der Film heißt „Warte, bis Du stirbst“ und wurde von Olaf Müllers Auseinandersetzungen mit Moritz Schlick und seinem Seelenbeweis inspiriert.[7] Und was sich kineastisch darstellen lässt, da muss ich Müller zustimmen, das können wir uns garantiert auch vorstellen. Ich kann dir den Film noch heute Abend schicken. [8]
Xenia: Diese Prämisse spielt wahrscheinlich auf das Vorstellbarkeitsargument an – ein Schlüsselargument des Leib/Seele-Dualismus. Vertreter dieses Arguments legen dar, dass unsere Fähigkeit, uns Szenarien vorzustellen, in denen Leib und Seele getrennt sind, darauf hindeuten, dass es einen grundlegenden Unterschied zwischen den beiden Entitäten gibt.
Theo: Genau, ich kann mir Körper und Seele klar und deutlich getrennt vorstellen.
Xenia: Ja, ich glaube, mit der Fantasie kommt man da relativ weit …
Magnus: Wir können doch über lauter Unsinn fantasieren. Was hat das schon für eine Bedeutung für die Wirklichkeit?!
Theo: Deshalb wird das von Müller nicht bloß als „Fantasie“, sondern, nach Robert Musil, als „Möglichkeitssinn“ bezeichnet. [9] Es geht nicht darum, sich etwas Unsinniges, etwas Unmögliches, vorzustellen, runde Quadrate etwa, oder verheiratete Junggesellen, es geht darum, dass die Wirklichkeit der Möglichkeit vorausgeht – sie bedingt die Möglichkeit.
Magnus: Auch wenn ich sage, ich könnte mir das vorstellen – zumindest, wenn mir nun dieser Film gezeigt wird – verstehe ich nicht, wie eine Möglichkeitsaussage zu einer Wirklichkeitsaussage führen soll.
Theo: Das ist ein Manöver, auf das Müller eingeht. Wenn man in einem Beweis Möglichkeitsaussagen mit notwendigen Wirklichkeitsaussagen vermischt, kann das Schlussfolgerungen ergeben, die unsere Realität korrekt widerspiegeln. [10] Tatsache ist, dass der von ihm angebrachte Beweis logisch einwandfrei funktioniert – solange man nur beiden Prämissen zustimmt.
Xenia: Die Sache mit dem Möglichkeitssinn finde ich gar nicht so abwegig. Schwieriger finde ich die Aussage, dass es unmöglich sei, nach dem Tod körperlos Erlebnisse zu haben, und doch vorher nichts anderes als ein Körper gewesen zu sein.
Theo: Wie meinst du das? Wenn ich nach dem Tod körperlos neue Erfahrungen mache, schlicht existiere, dann liegt es nahe, dass „ich“ nicht bloß mein Körper bin; dass ich auch vor dem Tod mehr als ein Körper gewesen bin.
Xenia: Da muss ich meinerseits diesen Möglichkeitssinn einsetzen. Die Prämisse von Müller ist auf eine zwingende Weise formuliert; sie schließt andere Möglichkeiten vollständig aus. Ich könnte mir aber vorstellen, dass ich zur Zeit t sterbe, danach noch ohne jeden Körper Erlebnisse habe und vorher nichts anderes war als ein Körper.
Theo: Das ist kein legitimer Einwand – es sei denn, du kannst ihn mit einem Beispiel stützen. Ich will verstehen, wie genau ich mir das vorstellen soll. Willst du für deinen Einwand nach dem Tod etwa plötzlich eine Seele aus dem Nichts erschaffen? Big Bang?! In dem Fall wäre eine kontinuierliche Identität vor und nach dem Todeszeitpunkt t für mich nicht denkbar.
Xenia: Ich glaube, wir sollten mit Vorsicht vom Big Bang sprechen. Es wird oft missverstanden, dass „Big Bang“ bedeute, alles entstehe aus dem Nichts. Bei der Untersuchung des Ursprungs des Universums, in einem sehr frühen, hochkompakten Zustand, involviert die Urknalltheorie nämlich existierende fundamentale Kräfte und physikalische Gesetze – es ist nicht die Rede davon, dass dieser Zustand ein „Nichts“ darstellt.
Magnus: Ja, im Wesentlichen bleibt das Konzept, etwas aus dem Nichts zu erschaffen, trotz Phänomenen wie der Quantenfluktuation [11], eine umstrittene Thematik – sowohl in der Physik als auch in der Philosophie.
Xenia: Ich würde das alles ja dem Energieerhaltungssatz gleich auffahren. Das Gesetz der Erhaltung von Energie besagt bekanntlich, dass Energie weder erschaffen noch zerstört, sondern nur von einer Form in eine andere umgewandelt werden kann. Wieso könnte ich dann nicht auch sagen, dass ich mir vorstellen kann, dass ich zum Todeszeitpunkt t von einer Form in eine andere umgewandelt werde? Wenn einer Glühlampe elektrische Energie zugeführt wird, wird sie in andere Energieformen transformiert – in Strahlungsenergie und thermische Energie. Ich kann mir vorstellen, dass ich zum Zeitpunkt t von einer materiellen Form in eine immaterielle Form umgewandelt werde, ohne, dass „ich“ dabei verloren gehe.
Theo: Ja, aber der Energieerhaltungssatz gilt nur für Physisches. Dass eine physikalische Energie zu einer anderen wird, ist nicht dasselbe, wie zu sagen, dass eine physikalische Energie zu einer „immateriellen Energie“ wird. Diese immaterielle Energie wäre dann ja auch nicht mehr empirisch messbar. Damit fände tatsächlich ein Verstoß gegen den Energieerhaltungssatz statt. Am Ende steigst du uns noch auf die Duncan MacDougall Schiene um und sagst, dass es 21 Gramm sind, die dem Körper entweichen, und sich in eine immaterielle Seele verwandeln.[12]
Xenia: Lassen wir das mit MacDougall. So weit wollte ich gar nicht gehen. Das sollte lediglich ein Beispiel dafür sein, dass wir in unserer Umwelt bereits Wandelvorgänge von einer Form in eine andere kennen. Das sollte unserer Vorstellungskraft einen guten Antrieb geben. Ich wollte den Fokus aber eigentlich auf das Folgende richten. Elektrische Energie ist nichts anderes als elektrische Energie, bevor sie auf die Glühbirne trifft, und dann haben wir etwas anderes vor uns: Licht und Wärme. Es ist in diesem Fall also quasi möglich zu sagen, dass etwas zu einem Zeitpunkt t1etwas ist, was es zu einem anderen Zeitpunkt t2 nicht ist. Zu einem Zeitpunkt t1 messen wir elektrische Energie und zu einem späteren Zeitpunkt t2 messen wir thermische Energie und Strahlungsenergie.
Theo: Und weiter?
Xenia: Ich will sagen: Ich kann mir vorstellen und es ist auch möglich, dass ich zur Zeit t sterbe, danach noch ohne jeden Körper Erlebnisse habe und doch vorher nichts anderes war als ein Körper.
Theo: Vielleicht kann ich mir das vorstellen, aber ich sehe weiterhin eine entscheidende Schwachstelle an dieser Option, die du für eine Möglichkeit hältst. Was passiert in diesem Beispiel mit dem Ich? Wie kann ich noch von mir sprechen, wenn ich doch gänzlich verwandelt bin? Wenn ich zu t1 etwas anderes bin als zu t2? Welche Verifizierbarkeitskriterien habe ich, dass es sich dann überhaupt noch um mich handelt?
Xenia: Welche Verifizierbarkeit gibt es denn in dem dualistischen Todesszenario? Woher weiß deine Seele nach dem Tod, dass der Körper drüben eben noch zu ihr gehörte? Woher weiß sie, dass sie noch dasselbe Ich ist?
Theo: Ich kann mir in einem „idealen Todesszenario“ vorstellen, dass die Seele das vernünftig behaupten kann. Einen idealen Todesumstand hätten wir vor uns, wenn der Tod ein kontinuierliches und bewusstes Erlebnis darstellt. So würde ich als Grundlage voraussetzen, dass der Sterbende bei vollem Bewusstsein ist und nicht unter Einfluss von bewusstseinsverändernden Drogen steht – denn der Sterbende darf keine Zweifel daran hegen, dass er in diesem Augenblick stirbt. Er soll nicht denken, dass er sich bloß einbildet, zu sterben. Außerdem wäre es hilfreich, wenn der Sterbende es bewusst erlebt, den Körper zu verlassen und ihn aus einer ungewohnten Perspektive zu sehen. Es gibt viele Details, die man sich da überlegen könnte … Die Seele könnte sich umblicken, den ihr bekannten Körper aus einer unbekannten Perspektive wiedererkennen, und sehen, dass es sich dabei um eine Leiche handelt. Dann könnte die Seele beispielsweise auch prüfen, ob sie ein Spiegelbild hat, und sie könnte sich an ihr körperliches Dasein erinnern, was dann wiederum ihre Identität bestätigen könnte. Und da die Seele in diesem Augenblick weiterhin neue Wahrnehmungen, Erlebnisse und Gefühle hätte, wüsste sie folglich auch, dass sie fortexistiert. [13]
Xenia: In meinen Augen liegt es genauso nahe, zu sagen, dass die Seele in meinem Fall ein derartiges Erlebnis haben kann. Wieso denn nicht? Der Wandel, den ich mir vorstelle, ist kontinuierlich. Auch denke ich nicht, dass der Wandel von einer Form in eine andere Form alle Erinnerungen notwendigerweise auslöschen müsste.
Theo: Mir ist noch nicht wohl dabei. Und das von vorhin beschäftigt mich weiterhin. Was ist eigentlich mit dem Körper, wenn er sich dir zufolge „in eine immaterielle Seele verwandelt“? Wenn sich elektrische Energie in andere Energien umwandelt, bleibt sie nicht als elektrische Energie bestehen. Und Tote verschwinden nicht einfach, sie lösen sich nicht in Seelen auf. Müsste nicht etwas an Masse doch spurlos verschwinden? Die verwandelte Masse?
Magnus: Stimmt, so klingt es nach Himmelfahrt: „Und es geschah, während er sie segnete, verließ er sie und wurde zum Himmel emporgehoben.“[14] Es bleibt kein Körper zurück.
Theo: Ja, genau. Du überraschst mich ein wenig, Magnus. Ich hätte nicht erwartet, dass ausgerechnet du die Bibel zitierst.
Magnus: Dass ich ein Materialist bin, heißt nicht, dass ich zugleich ein kriegerischer Atheist bin. Es gehört zur Allgemeinbildung, die Bibel gelesen zu haben.
Xenia: Als Himmelfahrt habe ich mir die ganze Geschichte natürlich nicht ausgemalt.
Magnus: Dann kann ich mir das noch nicht gut vorstellen.
Theo: Ich glaube, wir können uns zur Klarstellung ein Gedankenexperiment zur Hilfe holen. Wenn wir von der von mir erwähnten Annahme ausgehen, nämlich, dass es notwendig ist, dass ich jetzt einen Körper und eine immaterielle Seele habe, können wir die Sache gut in die Geschichte von dem Gehirn im Tank integrieren. So geht Müller innerhalb seines Seelenbeweises vor.[15]
Magnus: Was hat das Gehirn im Tank damit zu tun?
Theo: Man kann den Tod im Rahmen dieses Gedankenexperiments durchspielen. Das Experiment ist ja recht bekannt: Wir stellen uns vor, ein Gehirn wird von einem Wissenschaftler in einen speziellen Tank gelegt, wo es mit Nährstoffen versorgt und elektrisch von einem Supercomputer stimuliert wird, sodass ihm die Illusion einer „normalen“ sensorischen Erfahrung vermittelt wird – das Gehirn kann in diesem Zustand ein Leben wie das unsere erleben. Für gewöhnlich wird das Experiment, unter dem Motto „Weißt du sicher, dass du kein Gehirn im Tank bist?“, dafür verwendet, einen Skeptizismus gegenüber der äußeren Realität und der Natur unserer Wahrnehmung zu äußern.
Xenia: Ich fand an dieser Stelle immer faszinierend, dass das Gehirn im Tank, trotz der simulierten Umstände, in denen es sich befindet, wahre Aussagen treffen kann. Wenn das Gehirn im Tank sagt: „Dort ist ein Orca!“, bezieht es sich aus unserer Perspektive selbstverständlich auf einen simulierten Bit-Orca und nicht den herkömmlichen Orca, aber die Aussage des Gehirns handelt ja auch von einem Gegenstand, auf den sie kausal zurückgeht. Anders gesagt: Die wahren Aussagen des Gehirns beziehen sich auf die Simulationsobjekte des Supercomputers – über unsere Welt, die das Gehirn nicht bewusst wahrnehmen kann, kann es keine Aussagen treffen.
Theo: Richtig, das alles ist die Ausgangslage. Gehen wir jetzt also einen Schritt weiter: Der Supercomputer spielt dem Gehirn im Tank – nennen wir die Person ab sofort Sam – den eigenen Tod, einen „Bit-Tod“, vor; das physische Gehirn von Sam trägt dabei keinen Schaden davon. Sam hat ein Erlebnis, wie wir es in dem von mir erwähnten Film sehen, und ist jetzt wahrscheinlich überrascht, Bit-körperlos zu sein und doch weiterhin zu existieren. Wie wir wissen, ist der Grund dafür, dass Sam den Bit-Tod überlebt, dass Sam nie nur ein Bit-Körper war, sondern eben auch ein Gehirn im Tank. Es liegt nahe, ganz im Sinne der zweiten Prämisse zu sagen, dass es nicht möglich ist, folgende Aussage zu treffen: Sam (Bit-)stirbt zur Zeit t, hat danach noch ohne jeden Bit-Körper Erlebnisse und war doch vorher nichts anderes als ein Bit-Körper.
Magnus: Übertragen wir das auf den Leib/Seele-Dualismus, fungiert das Gehirn also als Sams immaterielle Seele, während der Bit-Körper Sams physischen Körper darstellt?
Theo: Ganz genau. Xenia, kannst du auch dieser umformulierten Prämisse nicht zustimmen?
Xenia: Ja. Ich sage, es ist möglich, dass Sam zur Zeit t (Bit-)stirbt, danach noch ohne jeden Bit-Körper Erlebnisse hat und doch vorher nichts anderes als ein Bit-Körper war. Ich kann meine Alternative nämlich ebenfalls in dieses Gedankenexperiment integrieren.
Theo: Ich bin gespannt.
Xenia: In meiner Version wäre Sam anfangs ausschließlich ein Bit-Bewusstsein innerhalb des Supercomputers. Zum Zeitpunkt tv vor dem Tod haben wir also lediglich dieses Bit-Bewusstsein, und zum Zeitpunkt des Todes t holt ein Wissenschaftler ein Gehirn im Tank herbei und transferiert Sams Bit-Bewusstsein in dieses Gehirn – inklusive all seiner Erinnerungen, Gedanken und Emotionen. Zum Zeitpunkt tn nach dem Tod ist Sam nun ein Gehirn im Tank. Ich denke, in dieser Version könnte der Supercomputer dem Gehirn im Tank den Tod während des Transfers ebenfalls kontinuierlich simulieren – Sam könnte der Zuschauer desselben Films sein, wie in deinem Beispiel und würde auch keinen Unterschied erkennen. Damit kann ich sagen, dass Sam zur Zeit t (Bit-)stirbt, danach noch ohne jeden Bit-Körper Erlebnisse hat und doch vorher nichts anderes als ein Bit-Körper war.
Theo: Ich bin nicht überzeugt, weshalb, kann ich aber noch nicht ganz ausformulieren. Zum einen ist da das Gehirn im Tank, das hier scheinbar als unbeschriebener USB-Stick verwendet wird. Außerdem frage ich mich, ob es das nicht zu weit treibt, wenn wir von einem Bit-Bewusstsein sprechen, das Erinnerungen, Gedanken und Emotionen hat …
Magnus: Wieso lag es dir überhaupt besonders daran, die zweite Prämisse zu entkräften?
Xenia: Weil gerade diese den Leib/Seele-Dualismus als zwingende Schlussfolgerung darstellt. Die Annahme, dass wir jetzt notwendigerweise zwei sind, sollten wir nach dem Tod des Körpers noch eine Eigenexistenz feststellen können. Das ist aber weder die einzige Erklärung, noch die einzig vernünftige.
Xenia überlegt eine Weile.
Xenia: Der Leib/Seele-Dualismus steht vor einer entscheidenden Herausforderung, der er sich in meinen Augen niemals wird stellen können. Dadurch, dass er sagt, dass Körper und Seele zwei getrennte Entitäten sind, kann er uns nicht sagen, wie eine immaterielle Seele mit einem materiellen Körper interagieren kann und umgekehrt.[16]
Theo: Stimmt, darauf kann ich bis jetzt weder dir noch mir eine zufriedenstellende Antwort geben. Und doch scheint mir diese Kritik am Dualismus weniger vernichtend als der Reduktionismus des Materialismus und Idealismus. Kann deine eigene Theorie diesen Moment überbrücken?
Xenia: Meine Theorie ist ein Monismus, und Monismen haben dieses Problem schlicht nicht.
Magnus: Dann bist jetzt du dran.
Xenia: Richtig.
[1] Das Beispiel von dem perfekten Schauspieler kommt von Putnam, der es als Argument gegen den Behaviorismus verwendet.
Putnam, H. (1965). “Brains and Behaviour”.In: Analytical Philosophy, Vol.2. Herausgeber: Butler, R.J. Blackwell.
[2] Die Qualia-Debatte ist eines der großen Probleme innerhalb der Philosophie des Geistes.
„[…] Am wichtigsten ist der Terminus [Qualia] heute in der modernen Philosophie des Geistes. Q. werden dort als Eigenschaften des persönlichen Erlebens aufgefaßt: Sehe ich etwa auf ein rotes Objekt, so erlebe ich die Röte auf eine ganz bestimmte Weise. In Anlehnung an Th. Nagel kann man sagen, daß es »irgendwie ist, etwas Rotes zu sehen« (What Is It Like to Be a Bat? 1974). Diesen besonderen Qualitäten des Erlebens werden häufig eine Reihe sekundärer Eigenschaften zugeschrieben. Sie gelten als ›unanalysierbar‹ oder einfach, ›privat‹ oder ›subjektiv‹ (ich kann nicht wissen, wie es für andere ist, Rot zu sehen) und ›unaussprechlich‹ (ich kann einem Blinden nicht erklären, wie es ist, Rot zu sehen). Q. werden als eines der großen Probleme der Philosophie des Geistes angesehen, weil sie sich dem Zugriff einer objektiv-materialistischen Wissenschaft prinzipiell zu entziehen scheinen. Dafür wird auf der Basis verschiedener Gedankenexperimente argumentiert. Das Argument des invertierten Spektrums behauptet die Möglichkeit, daß zwei Personen (in zwei verschiedenen möglichen Welten) die gleiche physikalische Struktur haben und sich exakt gleich verhalten können, ohne daß ihre Erlebnisse jedoch die gleichen Qualitäten haben müßten: Für Person A könnte es so sein, Rot zu sehen, wie es für Person B ist, Grün zu sehen, ohne daß dieser Unterschied nach außen hin deutlich würde. Daraus wird geschlossen, daß Q. für die objektive Wissenschaft unzugänglich sind. […]“
Hoffmeister, J., Kirchner, F., & Michaelis, C. (1998). Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt. S. 537 ff. Qualia.
[3] Aristoteles (1998). Über die Seele: De Anima. Übersetzung und Herausgeber: Corcilius, K. Felix Meiner Verlag. [408b18].
[4] Müller, O. L. (2021). „Die immaterielle Seele. Ein ehrwürdiger Beweis in neuen Kleidern“. In: Menschlicher Geist - Göttlicher Geist. Beiträge zur Philosophie und Theologie des Geistes. Herausgeber: Langenfeld, A., Rosenhauer, S. und Steiner, S. Aschendorff Verlag. S. 65-112.
[5] Müller, O.L. (2021). „Die immaterielle Seele. Ein ehrwürdiger Beweis in neuen Kleidern“. S. 89.
[6] Müller, O. L. (2021). „Die immaterielle Seele. Ein ehrwürdiger Beweis in neuen Kleidern“. S. 94.
[7] Müller, O. L. (2010). „Warte, bis Du stirbst. Dualistische Hausaufgaben von Moritz Schlick“. In: Moritz Schlick. Ursprünge und Entwicklungen seines Denkens. Band 5. Herausgeber: Engler, F. O. und Iven, M. Parerga Verlag. Berlin. S. 11-71.
[8] Andreou, I., Mikhlina, M., Taylessani, G. (2023). Warte, bis Du stirbst [Film]. Im Auftrag von Olaf Müller. Humboldt-Universität zu Berlin. YouTube: https://youtu.be/TzWgfIm05q4
Die Herausgeberin dieses Dialogs ist eine der besagten Kommilitoninnen, weshalb sich das Skript zum Film günstigerweise im Anhang befindet.
[9] Musil, R. (2014). Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes und Zweites Buch. Herausgeber: Frisé, A. Rowohlt Taschenbuch Verlag. S. 16; 1.4:.„Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben.“
[10] Hier Olaf Müller zu der Frage: „Obwohl die Sorge am Ende durch den Beweis gegenstandslos werden müsste, trete ich ihr zum Auftakt mit einem arithmetischen Gleichnis entgegen: Um vom Halbwissen über Möglichkeiten, denen der Informationswert "1/2" zukommt, zum vollen Wissen über die Wirklichkeit mit Informationswert "1" vorzudringen, müssen wir die Halbheiten mit etwas Stärkerem multiplizieren – mit Notwendigkeiten vom Informationswert "2". Wir brauchen also einige Prämissen mit geringer Wirklichkeitskraft, andere Prämissen mit erhöhter Wirklichkeitskraft, und wenn wir alle diese Prämissen in einen Hut werfen, kräftig schütteln und dadurch die gesammelte Information neu kombinieren, dann kann dabei sehr wohl eine Konklusion vom Informationswert "1" herauskommen, also eine Konklusion, die unsere Wirklichkeit beschreibt.“
Müller, O.L. (2021). „Die immaterielle Seele. Ein ehrwürdiger Beweis in neuen Kleidern“. S. 69-70.
[11] Quantenfluktuationen sind Phänomene, bei denen scheinbar spontan Partikel und Antiteilchen im Vakuum erscheinen und verschwinden. Diese Fluktuationen können als vorübergehende Verletzungen der Erhaltungsgesetze angesehen werden, führen jedoch nicht im klassischen Sinne dazu, dass wir sagen könnten, hier entstehe etwas Substantielles aus dem Nichts.
Konitzer, F. (2015). Vakuumfluktuationen. Welt der Physik: www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/quanteneffekte/vakuumfluktuationen/. Abgerufen am 02.10.2023.
[12] Duncan MacDougall war ein US-amerikanischer Arzt, der im frühen 20. Jahrhundert experimentelle Untersuchungen zur möglichen Gewichtsveränderung von Menschen unmittelbar nach ihrem Tod unternahm. Er nahm an, dass die Seele eines Menschen bei seinem Tod den Körper verlasse und dass dieser Vorgang am Gewichtsverlust messbar wäre. Er maß eine Gewichtsdifferenz von durchschnittlich 21 Gramm und nahm daher an, die Seele wiege 21 Gramm.
MacDougall, D. (1907). “Hypothesis concerning soul substance together with experimental evidence of the existence of such substance”. In: American Medicine, Vol. II. S. 240–243.
[13] Die hier beschriebenen Umstände sind eine knappe Zusammenfassung der viel detaillierter formulierten Szenarien in Olaf L. Müllers Arbeiten zur immateriellen Seele.
Müller, O.L. (2021). „Die immaterielle Seele. Ein ehrwürdiger Beweis in neuen Kleidern“.
Müller, O. L. (2010). „Warte, bis Du stirbst. Dualistische Hausaufgaben von Moritz Schlick“.
[14] (2017). Die Bibel. Einheitsübersetzung. Altes und Neues Testament. Verlag Herder. Lukas: 24, 51.
[15] Müller, O.L. (2021). „Die immaterielle Seele. Ein ehrwürdiger Beweis in neuen Kleidern“. S. 80-87.
[16] Unter anderen unternahm René Descartes in seinen „Meditationen über die Erste Philosophie“ den erfolglosen Versuch, die Wechselwirkung zwischen der immateriellen Seele und dem materiellen Körper in seiner dualistischen Philosophie zu erklären. Er nahm an, dass die Zirbeldrüse (eine einzigartige Struktur im Gehirn) als Vermittler zwischen dem Körper und der Seele fungiert; seiner Theorie zufolge sendet die Seele Befehle an die Zirbeldrüse, die dann wiederum die Bewegungen des physischen Körpers steuert. Descartes' Theorie bezüglich der Rolle der Zirbeldrüse gilt heute als überholt, da die Funktionen der menschlichen Seele äußerst komplex sind und sich nicht auf eine einzige Hirnstruktur reduzieren lassen.
Xenia: Ich möchte nochmal das Thema „Substanz“ angehen, denn, woran ich mich an deiner Theorie am meisten störe, ist die Tatsache, dass sie nicht mit meiner Substanzdefinition vereinbar ist.
Theo: Wie genau meinst du das?
Xenia: Ich habe anfangs gesagt, dass die Substanz für mich eine Causa sui darstellt, dass sie die neutrale Grundlage aller Attribute ist. Ich bin überrascht, dass du nichts dagegen eingewendet hast.
Theo: Ich stehe auf dem Schlauch.
Xenia: Dann sehen wir uns doch mal die Geschichte des Substanzbegriffes an. „Substanz“ bezieht sich auf das Grundlegende, das Beständige oder das Selbstständige und steht im Kontrast zu dem, was nicht selbstständig ist, nämlich Eigenschaften oder wechselnden Zuständen. Platon sieht die Spezifikation einer Substanz – bei ihm heißt sie ousia – in den Ideen, die sich von der Welt der Sinneserfahrungen abheben. Aristoteles gelangt zwar zu keiner abschließenden Definition von Substanz, aber er bezeichnet sie ebenfalls als den Träger sich ändernden Eigenschaften, und unterscheidet zwischen drei Formen der Substanz: der Materie, der Idee und dem Produkt, das beides vereint.[1]
Magnus: Das lässt sich auch aus dem schließen, was wir bisher in unserer Gigantomachie diskutiert haben.
Xenia: Stimmt. Nähern wir uns also der Neuzeit. René Descartes definierte Substanz als etwas, „dass es zu seinem Bestehen keines anderen Dinges bedarf“ [2]; und Spinoza beschreibt die Substanz in seiner Ethik als etwas, das „in sich selbst ist und durch sich gedacht wird“ [3]. Hier haben wir also die Übereinstimmung mit meiner Definition, die behauptet, dass eine Substanz eine Causa sui darstellt. Immanuel Kant definierte den Substanzbegriff als eine Kategorie der Relation zusammen mit Akzidenzen – die Substanz war für ihn der Träger sich ändernder Akzidenzen.[4] Hier die Übereinstimmung mit meiner Definition der Substanz als neutrale Grundlage aller Attribute.
Theo: Und was bringt uns diese Geschichtsstunde?
Xenia: Könnt ihr dem zustimmen, dass eine Substanz (1) eine Causa sui ist und (2) eine neutrale Grundlage aller Attribute?
Magnus: Nun, in der Naturwissenschaft wird der Substanzbegriff meist im Kontext der Erhaltungsgesetze verwendet: Masse und Energie gelten aufgrund der Erhaltungsgesetze als Substanzen. Die Masse ändert sich bei chemischen Reaktionen nicht nennenswert [5] und der Energieerhaltungssatz besagt, dass in einem reibungsfreien, abgeschlossenen System die Summe aller Energien gleich bleibt. Energie und Masse können also ihre Formen wandeln – sprich:, ihre Attribute – bleiben aber stets grundlegend als Energie und Masse erhalten. Ich finde, wir können daher sagen, dass sie eine Causa sui und eine neutrale Grundlage aller Attribute darstellen. Wenn wir genau das tun, landen wir mit einem Schwenk selbstverständlich auch wieder beim Materialismus.
Xenia: Wie erwartet, stellt meine Definition kein Problem für einen Monismus dar.
Theo: Ich habe auch nichts dagegen einzuwenden. Im Dualismus gibt es einerseits die materielle Substanz, die eine Causa sui ist und eine neutrale Grundlage materieller Attribute darstellt und andererseits die denkende Substanz, die Seele, die dasselbe darstellt – für seelische Attribute verständlicherweise.
Xenia: Da haben wir es. Genau das ist das Problem. Wie, möchte ich fragen, kann es, nach der von mir gegebenen Definition, zweierlei Substanz geben? Wenn wir Substanz als dasjenige definieren, welches aller Wesensbeschaffenheit entledigt ist, als eine neutrale Grundlage, kann es nicht zweierlei davon geben. Wenn ich von Substanz spreche, will ich von einer Entität ohne Eigenschaften sprechen und man kann nicht sinnvoll zwischen zwei Entitäten unterscheiden, die identisch ohne Eigenschaften bestehen. Es liegt nahe, von bloß einer Sache zu sprechen – nicht von zwei.
Theo: Die Substanzen, von denen ich spreche, sind aber verschieden – die eine hat die grundlegende Wesensbeschaffenheit, materiell zu sein, und die andere diejenige, immateriell zu sein. Aus einer materiellen Substanz kann nichts Immaterielles geformt werden und andersherum.
Xenia: Ich stimme dir zu: Wir können sicher davon sprechen, dass eine Substanz, die in ihrem grundlegenden Wesen immateriell wäre, einer anderen Substanz, die in ihrem grundlegenden Wesen materiell wäre, nicht gleicht. Aber keine dieser Substanzen entspräche dann noch meiner Definition von einer Substanz als vollkommen neutrale Grundlage aller Attribute. Eine nicht neutrale Substanz wäre nicht mehr in der Lage dazu, die Grundlage beliebiger Attribute zu sein: Eine immaterielle Substanz kann entsprechend, zum Beispiel, nicht das Attribut haben, ein Stein zu sein.
Theo: Wenn ich so überlege, hast du nicht unrecht, dass sich meine Definition von Substanz notwendigerweise von deiner unterscheiden muss.
Xenia: Und genau da möchte ich deinem Dualismus an den Kragen gehen. Ich nehme an, dass zwei Substanzen, die miteinander nicht grundlegend wesensgleich sind, auch nicht miteinander interagieren können, weil sie keine gemeinsame Basis, keinen gemeinsamen Nenner, haben.
Theo: Weshalb denn?
Xenia: Der Dualismus propagiert zwei absolut voneinander verschiedene und unabhängige Substanzen, und wenn eine immaterielle Substanz keine materiellen Attribute annehmen kann und andersherum, sehe ich nicht ein, wie jegliche Interaktion zwischen beiden möglich sein soll.
Theo blickt Xenia verständnislos an.
Xenia: Lass mich das vereinfacht darstellen. Stell dir vor, wir bauen zwei Maschinen. Die eine soll stellvertretend für die materielle Substanz und die andere stellvertretend für die immaterielle Substanz agieren. Sagen wir jetzt, dass das System der einen Maschine ausschließlich auf visuelle Kommunikation ausgelegt ist und das System der anderen Maschine ausschließlich auf auditive Kommunikation ausgelegt ist. Die eine Maschine kann also Bilder zeigen und gezeigte Bilder analysieren und die andere kann Klänge produzieren und registrieren. Stellen wir beide Maschinen jetzt nebeneinander und geben ihnen die Anweisung zu kommunizieren…
Magnus: Error.
Xenia: Korrekt.
Theo: Du willst damit sagen, dass die immaterielle Seele und der materielle Körper nicht miteinander interagieren können?!
Xenia: Doch, das können sie. Aber nur, wenn sie eine gemeinsame Basis haben. Diese gemeinsame Basis lehnt dein Dualismus mit seiner Definition von zweierlei Substanz aber ab und genau darin besteht der Irrglauben. Du hast ja selbst vorhin eingestanden, dass du nicht sagen kannst, wie eine materielle Substanz, der Körper, mit einer immateriellen Substanz, der Seele, interagieren kann. Nach deiner Definition von den Substanzen halte ich das auch schlicht für unmöglich – wie in dem Maschinenbeispiel eben. Mit meiner Definition von Substanz aber, nennen wir meine Substanz, nicht immaterielle oder materielle Substanz, sondern „neutrale Substanz“, fahren wir bei der Deutung dieser Interaktion eindeutig besser.
Theo: Gehen wir, bitte, einen Schritt zurück. Ich verstehe nicht, wie alles eine Substanz zur Grundlage haben kann.
Xenia: Da Monismen meiner Definition von Substanz im Allgemeinen zustimmen, nehmen wir uns der Einfachheit halber den, von uns bereits näher betrachteten, Materialismus als Beispiel. Lass mich die Frage, die wir uns heute den ganzen Abend gestellt haben, dazu umformulieren: Magnus, woraus besteht das All?
Magnus: Aus Materie im erweiterten Sinne. Alles besteht aus Masse und Energie.
Xenia: Genau, und im Detail würdest du wahrscheinlich sogar weiter gehen und sagen, alles bestehe aus subatomaren Partikeln, Quantenfeldern oder Strings. Wobei die Details der Theorien mir hier eigentlich einerlei sind, denn all diese Theorien haben eines gemeinsam: Sie besagen, dass alles, ob Stein, Stern oder Mensch, aus denselben Elementen besteht – seien es nun Strings, subatomare Partikel oder schlicht Energie.
Theo: Und weiter?
Xenia: Wir sehen anhand dieser Theorien, dass die unterschiedlichen Erscheinungsformen die Forscher nicht dazu zwingen, von unterschiedlichen Grundbausteinen, je nach Erscheinungsform, zu sprechen. Für den String-Theoretiker besteht alles aus Strings und er stellt nicht infrage, dass etwas, das uns also so verschieden erscheinen mag wie Sterne, Steine und Menschen, aus denselben Grundbausteinen besteht.
Theo: Wir können bestimmt nachweisen, dass Materielles aus einem Stoff, welcher immer er sein mag, aus einer Substanz, besteht, aber ich bin eben nicht gewillt, das All auf die Materie zu reduzieren.
Xenia: Wie du weißt, erkläre ich mich ebenfalls nicht dazu bereit. Ich habe gesagt, dass es per definitionem nur eine Art von Grundsubstanz, die neutrale Substanz, gibt. Und dennoch habe ich nicht bestritten, dass es Materielles und Immaterielles gibt. Die Materialität und Immaterialität sind in meinen Augen aber sekundäre Attribute – primär ist eine Substanz neutral.
Magnus: Also sprichst du jetzt von einer Substanz, die sowohl das Attribut „materiell“ als auch das Attribut „immateriell“ haben kann? Ich brauche ein Beispiel.
Xenia: Ich habe zwei parat; sie bauen aufeinander auf und haben sich in meinen bisherigen Gesprächen als hilfreiche Gedankenstützen erwiesen.
Magnus: Raus damit.
Xenia: Wenn wir von der chemischen Verbindung H2O sprechen, wissen wir, dass sie in unterschiedlichen Aggregatzuständen auftreten kann. Im flüssigen Zustand sprechen wir von Wasser, im festen von Eis und im gasförmigen von Wasserdampf. Wir haben drei unterschiedliche Erscheinungen vor uns: Wasser, Eis und Dampf – und doch sprechen wir von derselben chemischen Verbindung.
Theo: Ja, aber das ist ja wieder dieselbe Geschichte wie in deinem Stern-Stein-Mensch-Beispiel. Es geht bloß um Materie.
Xenia: Warte ab. Das nächste Beispiel ist entscheidend. Was ich eben gesagt habe, wird dir als Gedankenstütze dienen.
Theo: Fein.
Xenia: Im Christentum gibt es die Begrifflichkeit der Dreifaltigkeit Gottes. Sie ist das Konzept, dass sich die Wesenheit Gottes in drei Hypostasen teilt: Gott, den Vater, Gott, den Sohn und Gott, den Heiligen Geist. Die Wesenseinheit Gottes bleibt in den drei Hypostasen unberührt – er ist sozusagen eine Substanz, die zugleich dreierlei ist: Vater, Sohn und Geist. Nach meinem Verständnis würde ich sagen: Gott ist primär eins und sekundär dreierlei.
Theo: Und wo genau ist die Verbindung zwischen den beiden Beispielen?
Xenia: H2O ist stets H2O, ob fest, flüssig, oder gasförmig. Gott ist immer Gott, ob Vater, Sohn oder Geist. Ich will sagen, dass Gottes Trinität als Aggregatzustände einer Substanz verstanden werden kann.
Theo: Hast du keine Angst, Philosophie und Theologie zu verwechseln?
Xenia: Meine Theorie hat zwar auf entscheidende Weise mit dem Konzept der Dreifaltigkeit zu tun, aber dabei geht es mir nicht um einen Gottesbeweis oder eine Glaubensbekundung.
Theo: Wie du meinst.
Xenia: Als ich das H2O-Beispiel gebracht habe, hat Theo berechtigterweise gesagt, dass das Beispiel sich nur auf materieller Ebenen abspielt. Das Immaterielle, welches seiner und meiner Theorie eigen ist, fehlt. Deshalb will ich eine Ebene weiter gehen und sagen, dass wir uns vorstellen können, dass etwas, das auf grundlegender Ebene eine Substanz ist, materiell und immateriell erscheint. Wenn wir uns vorstellen, dass der Gottvater analog zur neutralen Substanz fungiert, dann ist seine Erscheinung als Gottessohn und Heiliger Geist analog zur Erscheinung der neutralen Substanz als materielles und immaterielles Sein.
Theo: Ich soll mir Gott vorstellen? Ich weiß nicht, ob es das einfacher macht.
Xenia: Es geht mir nicht um Gott – es geht mir ums Konzept der Dreifaltigkeit.
Theo: Und das kann man sich vorstellen?
Xenia: Mindestens die Christen, und ich gehe fest davon aus, dass Christen nicht mit einem besseren Vorstellungsvermögen gesegnet sind als andere Menschen.
Theo: Na gut, ich versuche mir die Geschichte mit dem H2O Beispiel zu verdeutlichen. Meinetwegen ist Jesus also Eis und der Heilige Geist – Dampf. Wie bringt mich das weiter?
Xenia: Ludwig Feuerbach kehrte einst um, was in der Bibel stand. Im Buch Mose heißt es: „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde“ [7] und Feuerbach sagte, dass der Mensch Gott nach seinem Bilde schuf [8]. Was heißt das? Nach Feuerbach bedeutet das, dass in der Religion positive Eigenschaften des Menschen auf Gott übertragen werden – die Idee Gottes basiert auf den Wunschprojektionen des Menschen. Während Feuerbach das als seine Religionsantithese nutzt, will ich eine andere Schlussfolgerung daraus ziehen, nämlich, dass das, was wir uns von Gott vorstellen können – ob er existiert, oder nicht – lediglich seine anthropologischen Eigenschaften sind. Die anthropologischen Eigenschaften Gottes, Wissen und Macht zum Beispiel, sind, abgesehen von ihrer maximierten Form als Allwissen und Allmacht, tautologisch gefolgert, menschliche Attribute.
Magnus: Und das heißt für uns?
Xenia: Feuerbach sagt: Was wir uns vom Menschen vorstellen, stellen wir uns von Gott vor. Ich sage: Was wir uns von Gott vorstellen, können wir uns auch vom Menschen vorstellen. Seht ihr, worauf ich hinaus will?
Theo: Du willst sagen, dass du dir die Dreifaltigkeit des Menschen vorstellen kannst, weil du dir die Dreifaltigkeit Gottes vorstellen kannst?
Xenia: Exakt. Ich kann mir vorstellen, dass ich eins bin, eine grundlegende Substanz, die sich in zweierlei Erscheinungen manifestiert: Ich erscheine als Körper und Seele. Und ich kann mir das bei Weitem besser vorstellen, als ein seltsam zweigeteiltes Wesen zu sein. Ich kann mir eben nicht vorstellen, dass meine Ideen und Gedanken, meine Seele, ein grundlegend anderes Wesen haben als mein Körper. [9]
Magnus und Theo sehen einander stirnrunzelnd an.
Xenia: Ich schätze den Materialismus dafür, dass er ein Monismus ist und kein Interaktionsproblem hat, und den Leib/Seele-Dualismus dafür, dass er dem Materiellen und dem Immateriellen Raum gibt …
Magnus: Zusammengefasst dachtest du also, du kombinierst die Vorzüge beider: Ein Monismus, der weder das Immaterielle noch das Materielle ausschließt.
Xenia: Ja.
Magnus: Vielleicht schaffst du es sogar, mit dieser Annahme einige der Vorzüge der beiden Überzeugungen zu ernten, aber du nimmst einiges an Unkraut in Kauf. Du sagst, dass der Dualismus ein Interaktionsproblem hat, weil zwei Substanzen miteinander interagieren sollen, die grundlegend verschieden sind – ich stimme dir da zu. Bei dir interagieren Körper und Seele offenbar über eine gemeinsame Basis; die Basis, dass sie Erscheinungen einer einheitlichen Substanz sind. Was aber ist diese rätselhafte Substanz?
Theo: Stimmt. Was mir nicht klar ist, ist, was deine „neutrale Substanz“ praktisch gesehen darstellt.
Xenia: Nichts.
Theo: Nichts?
Xenia: Was habe ich im Verlauf des Gesprächs von der neutralen Substanz behauptet?
Magnus: … dass sie eine Entität ohne jegliche Attribute ist.
Xenia: Und was habe ich über das Nicht-Sein gesagt?
Theo: Du hast gesagt, dass das kontextunabhängige Nichts keine weiteren Eigenschaften hat, als nicht zu sein.
Xenia: Ich glaube, der Seinszustand der neutralen Substanz beginnt erst da, wo die neutrale Substanz ein Attribut erhält und sich auf diese Weise manifestiert.
Theo: Du willst sagen, dass keine Attribute zu haben und die alleinige Eigenschaft zu haben, nicht zu sein, dasselbe ist?
Magnus: Du willst tatsächlich behaupten, dass das Nichts und die neutrale Substanz Synonyme sind?
Xenia: Ganz genau. Das Nichts und die neutrale Substanz sind ein und dasselbe.
Theo: Bitte, was?!
Xenia: Ich habe die Vorstellung, dass alles im Universum, sowohl Materielles als auch Immaterielles, aus einer einzigen Quelle stammt. Das gesamte Dasein ist eine Expansion aus einem Möglichkeitsraum.
Theo: Was ist ein Möglichkeitsraum?
Xenia: Der „Möglichkeitsraum“ ist ein alternativer Begriff für die neutrale Substanz. Ich glaube, die unterschiedlichen Umschreibungen helfen uns, jenes Ding zu beschreiben, was noch nicht ist, aber das Potenzial hat, alles zu sein – eine zugegeben sehr herausfordernde Vorstellung. Vielleicht kannst du dir die neutrale Substanz ja tatsächlich besser als Ort vorstellen, einen Ort, an dem potenziell alles existieren kann und an dem das Immaterielle und das Materielle als bloße Facetten derselben Substanz nebeneinander existieren. [10]
Theo: In dieser Sichtweise ist der Möglichkeitsraum also nicht einfach eine Leere, sondern ein tiefergreifendes Konzept, das der Vorstellung von einer Tabula rasa gleicht?
Xenia: Ja, jetzt hast du es.
Magnus: Was ist mit „Tabula rasa“ gemeint? Die neutrale Substanz ist eine Art weißes Blatt?
Xenia: Witzigerweise kann ich dir das am besten anhand der Worte des wunderbaren J. R. R. Tolkien erläutern.
Magnus: Du kommst jetzt mit „Herr der Ringe“?
Xenia: Dafür bin ich mir sicher nicht zu schade. Moment, ich sehe einmal nach dem Original-Wortlaut.
Xenia holt ihr Handy raus und sucht.
Xenia: Also, eine knappe Einleitung zur Handlung und mehr braucht es für den Kontext eigentlich nicht: Im Band „Die Gefährten“ treffen die Zauberer Gandalf und Saruman auf einander, wobei Gandalf bemerkt, dass Saruman, der sich den dunklen Mächten zugewandt hat, nicht mehr sein übliches, weißes Gewand trägt. Gandalf erzählt darüber:
‘I looked then and saw that his robes, which had seemed white, were not so, but were woven of all colours, and if he moved they shimmered and changed hue so that the eye was bewildered.
‘ ‘‘I liked white better,’’ I said.
‘ ‘‘White!’’ he sneered. ‘‘It serves as a beginning. White cloth may be dyed. The white page can be overwritten; and the white light can be broken.’’
‘ ‘‘In which case it is no longer white,’’ said I. ‘‘And he that breaks a thing to find out what it is has left the path of wisdom.’’ [11]
Magnus: Und Herr Tolkien hat dir jetzt inwiefern geholfen?
Xenia: Er veranschaulicht, was ich sagen will. In diesem Beispiel agiert das Weiß ebenso wie meine Vorstellung von der neutralen Substanz. Weiß hat das Potenzial, sich allerlei Attribute anzueignen: Es kann gefärbt, überschrieben und gebrochen werden. Aber etwas, was nicht länger weiß ist, weil es gefärbt, überschrieben oder gebrochen wurde, hat diese allumfassenden Entwicklungsmöglichkeiten nicht länger. Gandalf sieht im Weißen eine überlegene Bedeutung, weil es in diesem unberührten Zustand das größte Potenzial birgt, verstehst du?
Magnus: Vage.
Xenia: Stell dir die neutrale Substanz als fundamentale Leinwand des Universums vor, als Quelle aller Ideen und Formen, als Quelle aller Erfahrungen, von der Entstehung der ersten Sterne bis zur Geburt des Bewusstseins. Dualitäten, ob Sein und Nicht-Sein, oder Materielles und Immaterielles, sind lediglich Ausdrücke des Potenzials der neutralen Substanz.
Theo: Ich muss das einen Moment auf mich wirken lassen.
Magnus: Ich denke, es gibt Ansichten, die auf den ersten Blick faszinierend erscheinen mögen, aber bei genauerer Betrachtung mehr Fragen aufwerfen als Antworten liefern. Eine solche Vorstellung, scheint mir, ist diese Idee von einer neutralen Substanz, aus der angeblich alles, sei es Materielles oder Immaterielles, hervorgegangen ist. Diese Hypothese suggeriert, dass das gesamte Universum aus einem neutralen Zustand oder sogar aus dem Nichts entstanden ist, und das ist etwas, was ich nicht für haltbar halte. Das Konzept verletzt die Grundprinzipien der Kosmologie und der Physik, die auf kausalen Zusammenhängen und Ursache-Wirkungs-Beziehungen basieren. Es ist schwer vorstellbar, wie etwas aus dem Nichts entstehen kann – , und das, ohne eine Ursache oder einen Mechanismus, der das erklären würde. Das heißt für mich, deine Theorie hat ein fatales Kausalitätsproblem.
Xenia: Ich weiß.
Theo lacht.
Theo: Außer du entscheidest dich jetzt doch für die theologische Schiene und führst hier Gott als prima causa ein. Oder du gibst dem freien Willen diese Rolle …
Magnus: Ich finde, das klingt nach Spinozismus und nicht notwendigerweise nach Theologie. Spinoza nannte seine Substanz Gott und wertete, ähnlich wie Xenia, Ausdehnung und Denken als ihre Attribute.[12]
Xenia: Seht mal, ließen eure Theorien keinen Raum für Skeptizismus, keine Erklärungslücken, gebe es nichts für uns zu diskutieren. Ich kann, genauso wie ihr, keine Wahrheit postulieren, sondern mich nur für meine Theorie starkmachen, weil ich sie für plausibler als eure halte. Ich halte sie trotz ihres Kausalitätsproblems hoch, weil sie aktiv, nicht bloß schulterzuckend, auf die Schwierigkeiten des Leib/Seele-Dualismus und des Materialismus antwortet.
Theo: Du denkst also wahrhaftig, die Probleme des Dualismus umgangen zu sein?
Xenia: Ja. Mein neutraler Monismus zeigt, dass eine substanzielle dualistische Trennung zwischen Geist und Körper nicht notwendig ist, um die Vielfalt menschlicher Erfahrungen und Phänomene zu erklären. Stattdessen können wir Dualität als etwas ansehen, das auf einer phänomenalen Ebene nützlich sein kann, aber auf einer tieferen, metaphysischen Ebene überwunden werden kann.
Magnus: Und mir sagst du?
Xenia: Der Materialismus ist zwar eine nützliche Perspektive für die Erforschung der physischen Welt, aber nicht ausreichend, um die gesamte Bandbreite der menschlichen Erfahrung, einschließlich des Bewusstseins, zu erklären. Die Vorstellung einer einzigen zugrunde liegenden Substanz, die sowohl geistige als auch materielle Aspekte umfasst, schlägt eine Brücke zwischen dem Materialismus und dualistischen Ansichten. Meine Annahme ermöglicht es, das Bewusstsein und die geistige Welt in das Verständnis der Gesamtnatur der Existenz zu integrieren, ohne die Prinzipien des Materialismus völlig abzulehnen.
Theo: Was erhoffst du dir jetzt davon?
Xenia: Nicht besonders viel … Aber ebenso wie euch scheint mir die Kritik am neutralen Monismus weniger gravierend als die Kritik an euren Theorien. Ich habe meinerseits die plausibelste Theorie gewählt, die in meinen Augen das kleinste Übel darstellt.
Magnus: Der Philosoph, der vorgibt, auf der Suche nach Wahrheit zu sein, gibt sich mit dem kleinsten Übel zufrieden?
Theo: Irgendwie deprimierend.
Xenia: Nein, ein Philosoph, der eine Theorie als solche kennzeichnet, liebt die Wahrheit mehr, als derjenige, der eine Theorie, trotz treffender Einwände, als Wahrheit betitelt.
Alle drei schweigen eine Weile.
[1] Hoffmeister, J., Kirchner, F., & Michaelis, C. (1998). Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt. S. 639 ff. Substanz.
[2] Descartes, R. (2007). Die Prinzipien der Philosophie: Zweisprachige Ausgabe. Übersetzer: Wohlers, C. Felix Meiner Verlag. Buch I, S. 51.
[3] Spinoza, B. (2010). Die Ethik Schriften und Briefe. Übersetzer: Vogl, C. Alfred Kröner Verlag. S. 3. I, 3.
[4] Kant, I. (2013). Kritik der reinen Vernunft. Herausgeber: Heidemann, I. Reclam Verlag. S. 260 ff. Analogien der Erfahrung. Erste Analogie.
[5] Das besagt das Lomonossow-Lavoisier Gesetz.
[7] (2017). Die Bibel. Mose: 1, 27.
[8] Feuerbach, L. (1851). Vorlesungen über das Wesen der Religion. Verlag von Otto Wigand. S. 115. Elfte Vorlesung.
[9] Denjenigen Leserinnen und Lesern, die dem Dreifaltigkeitsbeispiel bis jetzt nichts abgewinnen konnten, möchte ich auf andere Art auf die Sprünge helfen. Ein anschauliches Beispiel, das die Wechselwirkung zwischen Materiellem und Immateriellem verdeutlicht und näher an menschlichen Erfahrungen liegt, ist die Art und Weise, wie verschiedene Elemente des physischen Lebens Einfluss auf unsere emotionalen und mentalen Zustände nehmen können. Beispielsweise können Substanzen wie Alkohol, Drogen und Medikamente sowie kulturelle Ausdrucksformen wie Musik unsere Stimmungen, Ideen und Vorstellungen beeinflussen. Gleichzeitig können unsere emotionalen Zustände und mentalen Vorstellungen auch umgekehrt Gesundheitsprobleme im physischen Körper verursachen. Ein einfaches Beispiel hierfür wäre der Einfluss von stressbedingten Gedanken und Ängsten auf den Körper, der zu Gesundheitsproblemen führen kann. Diese Wechselwirkungen verdeutlichen, dass es eine gewisse Einheit zwischen der materiellen und immateriellen Ebene geben muss, was für einen Monismus spricht.
[10] Es ist anzumerken, dass es faszinierend ist, dass man an dieser Stelle der Metapher des Räumlichen nicht entkommt, wobei die neutrale Substanz streng genommen keine räumliche Dimension hat.
[11] Tolkien, J. R. R. (2005). The Lord of the Rings. HarperCollinsPublishers. S. 259. The Fellowship of the Ring. Book Two. II. The Council of Elrond.
[12] Spinoza, B. (2010). Die Ethik Schriften und Briefe.
Xenia: Erinnert ihr euch daran, dass ich zu Beginn unseres Gesprächs sagte, dass ich einerseits zeigen wollte, dass die Gigantomachie fortwährt, und andererseits, dass meine Theorie der Gigantomachie hier und jetzt ein Ende setzen könnte? Ersteres stimmt wohl: Unsere ganze Auseinandersetzung ist ein Tribut dafür, dass die Gigantomachie seit weit über zwei Jahrtausenden fortwährt. Bei Letzterem spielt das Wörtchen „könnte“ eine große Rolle. Würdet ihr meine Theorie mit offenen Armen entgegennehmen, könnte sie tatsächlich einen Olivenzweig darstellen und eine Aussöhnung eurer Überzeugungen ermöglichen. Das „könnte“ sie bloß, hat sie aber nicht. Das muss ich mir eingestehen.
Magnus: Wir werden wohl kaum zu einer Einigung kommen. Die Dualisten werden nie akzeptieren, dass alles auf materielle Prozesse zurückzuführen ist, bis der wissenschaftliche Fortschritt – falls er es überhaupt jemals so weit schafft – den Beweis dafür liefert.
Theo: Und du wirst wahrscheinlich niemals die Existenz einer immateriellen Seele in Erwägung ziehen. Es ist wahnsinnig frustrierend, dass wir in dieser Debatte womöglich keinen Fortschritt erzielen werden … zumindest bis wir sterben.
Xenia: Wenn ich mir das nach unserem Gespräch nochmal überlege, bin ich nicht mehr so erpicht darauf, die Gigantomachie überhaupt zu beenden, denn ich will die Suche nicht abbrechen.
Theo: Vielleicht siehst du das Ganze aber lieber nicht mehr als Schlacht, sondern als ein gemeinsames Unterfangen.
Xenia: Als wären wir die Blinden, die im Dunkeln nach dem Elefanten tasten? Jede Theorie bietet eine bestimmte Sichtweise, aber keine Sichtweise umfasst die ganze Wahrheit? Du willst wohl andeuten, dass wir uns bewusst sein müssen, dass unsere Theorien begrenzt sind, und dass die Realität aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden kann. Die Idee wäre dann, dass wir für die Möglichkeit offen sein sollten, dass unsere verschiedenen Sichtweisen jeweils einen Teil der Wahrheit erfassen …
Xenia lacht. Magnus und Theo sehen sie verständnislos an.
Xenia: So eine Herangehensweise würde mich zu Tode nerven oder langweilen. Die Gigantomachie ist eben ein Krieg, und Philosophieren funktioniert nicht nach Anleitung eines Selbsthilfebuchs für Konfliktbewältigung. Wir brauchen keinen Frieden, um unser Werk zu betreiben – er schadet uns sogar eher, als dass er unserem Fortschritt zuträglich ist. Ich muss euren Sichtweisen rein gar nichts zugestehen. Tue ich, muss ich aber aus Prinzip nicht. Ich bin doch keine Politikerin, die Friede-Freude-Eierkuchen-Diplomatie anwenden muss, um Konflikte abzuwenden. Wir Philosophen versuchen in unserem Handwerk auf möglichst viele Füße zu treten. Fakt ist, ich darf völlig undiplomatisch sagen: Ich glaube, ich habe hier recht und damit war es das.
Magnus und Theo lachen jetzt auch.
Theo: Wobei ja eigentlich ich recht habe.
Magnus: Ja, ja. Selbstverständlich ich. Wenn Philosophen eins können, dann sich bekriegen.
Theo: Sie bekriegen sich aber vernünftig – gewaltfrei.
Xenia: Also setzten wir die Gigantomachie jetzt sozusagen einvernehmlich und genüsslich fort.
Magnus: Korrekt. Das Motto ist: Agree to disagree.
Xenia: Weißt du, das ist etwas, dass mich immer an Platons Dialogen gestört hat. Die Tatsache, dass alle sich durch den weisen Mann in ihrer Mitte überzeugen lassen. Versteh mich nicht falsch, ich weiß Sokrates als Figur und auch seinen Scharfsinn sehr zu schätzen, aber in den Dialogen von Platon fehlt es den anderen Teilnehmern etwas an Rückgrat. Ich meine, am Ende sind sie von den Thesen überzeugt und das kommt in der Realität kaum jemals vor.
Magnus: Ja, aber was kann man diesen Figuren überhaupt abverlangen? Sie sind Fantasiegestalten, deren einziger Zweck ist, die philosophischen Thesen ihres Schöpfers voranzutreiben.
Xenia: Stimmt, sie sind alle bloß ein Mittel zum Zweck.
Theo: Wie wir heute Abend die Mittel zum Zweck deiner Masterarbeit waren?
Xenia: Touché. Wisst ihr, mir fehlt am Ende trotzdem immer, dass Platons Figuren auch nach einer wunderbaren Argumentation einfach sagen …
Magnus: Nö.
Xenia: Genau.
Magnus: Damit du nicht so unzufrieden mit unserem Dialog bist, wie mit denen von Platon, sagen wir zu deiner Theorie also jetzt einvernehmlich: nö.
Theo: Ja, dahinter kann ich gut stehen.
Xenia lacht.
Xenia: Fühlt sich nicht so befriedigend an, wie gedacht.
Magnus: Das ist alles, was du kriegst.
Xenia: Sollten wir uns dann vielleicht den befriedigenderen Dingen des Lebens zuwenden?
Magnus: Du willst kickern?
Xenia: Und einen Whiskey.
Magnus, Theo und Xenia begeben sich in ein Hinterzimmer.
Sokrates schmunzelt überlegen.
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