Berlin. Es ist kurz nach Mitternacht. Seit einer Weile sitzen einander im Wintergarten einer kleinen Neuköllner-Wohnung zwei Menschen gegenüber. Mann und Frau. Sie rauchen ununterbrochen Marlboro Gold und trinken gesüßten Schwarztee. Aus einer Wohnung im unteren Stockwerk ertönt laut Musik. Es handelt sich um kein außergewöhnliches nächtliches Ereignis. Sie sind miteinander vertraut.
Frau: Du siehst müde aus.
Mann: Ich bin müde.
Frau: Kein Wunder. Es war eine schwierige Woche und ein langes Jahr. Wenngleich diese Woche so viel Gutes gebracht hat, hat sie sehr an den Kräften gezerrt.
Mann: Ich bin seit Monaten müde.
Frau: Was hast Du jetzt vor? Nun, wo Dein elender Job gekündigt ist und Du wieder Raum zum Atmen hast.
Mann: Ich habe ja noch dieses eine abschließende Projekt in den kommenden Wochen. Und weiter? Ich weiß es noch nicht genau. Das war der erste Schritt der Änderung. Jetzt warte ich darauf, dass mehr passiert.
Frau: Erfüllst Du Dir Deinen Traum und widmest Dich endlich Deinem Wohltätigkeits-Projekt?
Mann: Ja. Ich finde heraus, wie ich die erforderlichen einhundert Millionen tatsächlich manifestieren kann. Gerade höre ich mir die Reden von Menschen an, die vermögend sind und versuche herauszuhören, wo der Wendepunkt in ihrem Leben stattfand. Mir ist aufgefallen, dass das Wort „Berufung“ in ihren Reden oft fällt. Sie sprechen davon, einen Lebenszweck zu erfüllen.
Frau: Es scheint, als würde Deine Berufung auch bald in Erscheinung treten können. Jetzt, wo Du Dir den Raum geschaffen hast. Vorausgesetzt, Du hörst auf, Dich und das Universum ständig zu hetzen.
Mann: Man sagt, die Berufung sei das, wobei das Verstreichen der Zeit unbemerkt verbleibt. Etwas, das eine Quelle intrinsischer Freude darstellt ...
Frau: Das glaube ich nicht. Ich habe eine Berufung. Ich habe die Berufung, zu schreiben und ich vergesse die Zeit dabei selten. Mehr noch. Ich leide beim Schreiben. Auf komische Art weiß ich aber auch genau deshalb, dass es das ist, was ich tun sollte. Eben weil ich es „trotzdem“ tue. Ich habe auf der anderen Seite ja auch meine Zeichnungen und Karikaturen, aber ich weiß auch, dass sie nicht meine Berufung sind. Ich mache sie in einem meditativen Zustand. Sie fallen mir spielerisch leicht. Die Frau meines Bruders hingegen, die eine künstlerische Berufung hat, sie leidet, wenn sie malt. Und doch kann sie es nicht lassen.
Mann: Das Verstreichen der Zeit ist es also nicht. Aber es erfüllt Dich?
Frau: Es erfüllt mich zu Zeiten. Du kennst das nicht?
Mann: Ich kenne den Sog, aber nicht die Sache. Ich suche nach ihr. Man sagt, Menschen suchen einen Lebenszweck. Manchmal liegt er im eigenen Tun und manchmal ist er das Dienen zum Wohl anderer Menschen. Ich meinerseits nehme an, dass der wahre Zweck unmöglich außerhalb liegen kann.
Frau: Ich glaube tatsächlich nicht an einen Selbstzweck meines Tuns. Würde ich in dieser Nacht den Roman des Jahrtausends schreiben, wäre er wertlos, wenn er nicht auch gelesen würde. Wenn ich nicht annehmen würde, mir Leser verschaffen zu können, denen ich mit meinem Schaffen Trost, Verständnis und mein Gedankengut darbieten könnte, so würde ich mich nicht weiter mit dem Schreiben quälen.
Mann: Also liegt Deine Berufung außerhalb von Dir. Du dienst entsprechend Deinem Leser.
Frau: Nicht ganz. An diese Form des Altruismus glaube ich nicht. Es ist keine Aufopferung für die Massen. Es ist eine eigensinnige Tat. Ein Dialog mit dem Universum, wenn man so will. Ich gebe und ich erwarte auch zu nehmen. Ich gewinne hier Gewissheit und sie stellt eine Form der Erfüllung dar.
Mann: Ich frage mich aber doch, ob man diesen mühseligen Weg überhaupt erst gehen muss, um erfüllt zu sein. Kann ich erst nach dem Akt des Tuns und Gebens erfüllt sein? Der Zeitfaktor scheint mir, da eine zu entscheidende Rolle zu spielen. So schreibst Du erst, wartest dann bis andere es lesen und erst zum Schluss erhältst Du Deine Entlohnung.
Frau: Wenn ich meinen Glauben daran über Bord werfen würde, dass die Sache das von mir erwartete Ende nimmt, so wäre das auch ganz und gar eine Leidensangelegenheit. Die Erwartungshaltung gegenüber meinem Lohn begleitet mich aber auf jedem Schritt und ist bereits Teil der Erfüllung.
Mann: Trotzdem hast Du die Zeit nicht ausgegrenzt. Ich will sagen: Bist Du, bin ich, nicht als Ebenbild Gottes gedacht? Für ihn gibt es diese „Zeit“ aber nicht. In Gott, im Universum, hast Du Deinen Roman bereits geschrieben, veröffentlicht und bist gewiss. Wenn Du sein Ebenbild bist, müsstest Du nicht schon jetzt entlohnt sein? Müsste ich nicht jetzt bereits erfüllt sein, und nicht morgen oder nächstes Jahr? Das Gesetz der Anziehung besagt ja, dass Gleiches Gleiches anzieht. Wäre ich erfüllt, so wäre demnach das Erfüllte um mich. Wenn ich die Zeit nun umgehen könnte, so könnte mein Wille göttlich geschehen. Jetzt würde ich leben, als habe sich meine Berufung bereits erfüllt, weil sie sich bereits erfüllt hat. So könnte ich sagen: Ich habe den Nobelpreis gewonnen und ich habe meinen Wunsch in die Tat umgesetzt und all den Menschen geholfen, denen ich beabsichtige, zu helfen. Und so würde es auch geschehen sein. Und dann wäre ich wunschlos. Das ist es. Ich will wunschlos sein. Das Ziel ist die Wunschlosigkeit.
Frau: Sich zu wünschen, wunschlos zu sein, ist an sich ein Paradoxon, mein Lieber. Wunschlosigkeit ist ein Seins- und kein Werdenszustand.
Mann: Wenn es keine Zeit gibt, gibt es kein Werden, sondern nur ein Sein.
Frau: Dann zu Deiner feindlichen Einstellung gegenüber der Zeit: Vielleicht gibt es für Gott in der Tat keine Zeit, aber sie existiert für uns – das ist nicht bestreitbar. Wenn wir Leibniz, wie wir uns vor Kurzem geeinigt hatten, recht geben und diese Welt als beste aller möglichen Welten bezeichnen, dann ist auch die Zeit gottgewollt und ein Teil des Ganzen. Die Zeit muss für uns unwiederbringlich in eine Richtung verlaufen. Du wirst Dich nimmer an das Morgen erinnern können.
Mann: Ja, aber bin ich nicht eins mit ihm? Eins mit demjenigen, für den Zeit eben keine Rolle spielt? Du sprachst einmal von Sokrates‘ Methoden der Befragung. Davon, dass Platon davon ausging, dass alles Wissen bereits in uns vorhanden sei, und dass es nur darum ginge, die Wahrheit mit der richtigen Frage hervorzulocken.
Frau: Ja, die sokratische Hebammenkunst.
Mann: Nun, so müsste ich mir nur die richtige Frage stellen und irgendwo in mir gebe es auch die Antwort, die ich mir ersehne. Auch die Antwort über das Morgen wäre dort. Sie wäre hier. Sie ist hier, greifbar nah, und doch habe ich das Gefühl, sie nicht fassen zu können.
Frau: Du willst im Grunde genommen den Schleier heben. Ein Gespräch mit Gott von Angesicht zu Universum führen.
Mann: Genau. Wenn ich Teil dieses Universums, der göttlichen Substanz, bin, wenn ich in Gott bin, weshalb sollte es mir verwehrt sein?
Frau: Ist es Deinem Schöpfer aber möglich, von Angesicht zu Angesicht mit Dir zu sprechen, wenn Du doch nicht mal seine Sprache sprichst? Nehmen wir an, ich nehme die Rolle des Schöpfers ein. Ich schreibe einen Dialog und erschaffe dazu die Stadt Berlin und sage: „Es ist kurz nach Mitternacht. Seit einer Weile sitzen einander im Wintergarten einer kleinen Neuköllner-Wohnung zwei Menschen gegenüber. Mann und Frau. Sie rauchen ununterbrochen Marlboro Gold und trinken gesüßten Schwarztee. Aus einer Wohnung im unteren Stockwerk ertönt laut Musik. Es handelt sich um kein außergewöhnliches nächtliches Ereignis. Sie sind miteinander vertraut.“ Ich schaffe ein ganzes Universum oder ich bin es. Und nun führen meine Schöpfungen eben das Gespräch, welches auch wir jetzt in diesem Augenblick führen. Sie fordern mich dazu auf, den Schleier zu heben und direkt mit ihnen zu sprechen. Vielleicht unterbrechen sie sogar ihr Gespräch und rufen nach mir.
Mann: Mein Schöpfer, Gott, antworte mir!
Frau: Genau. Doch wenn ich meinen Schreibfluss anhalte und sage: „Hier bin ich, ich spreche zu Euch“, so hören sie und fühlen sie nichts. Ich könnte jetzt vielleicht ihre Erde erschüttern und es Fische regnen lassen, aber meine Sprache würden sie trotzdem nicht sprechen. Und ich bin zu viel, um ihre Sprache zu sprechen und dennoch ich zu sein. Ich könnte sogar einen weiteren Charakter in ihrer Mitte erscheinen lassen, dem ich all mein Wissen zuteilwerden ließe und der ihnen meinen Willen mitteilen würde, aber ganz ich, wäre er nicht. Er wäre wie Jesus. Mensch und nicht ganz Gott. Wen ich auch schöpfen mag, er könnte mich nicht ganz fassen. Meine Schöpfungen wären eben doch nur wie das Gehirn im Tank, das niemals sagen könnte, dass es eines sei. So verhält es sich auch mit mir. Wenn ich jetzt sagen würde – hier auf unserer Ebene – ich sei bloß ein Charakter, der zum Zwecke eines Dialogs geschaffen wurde, so stimmte es nicht. Denn im Rahmen meines und Deines Auffassungsvermögens bin ich jetzt leibhaftig hier. Ich bin weder ein Gehirn im Tank, noch bloße Fiktion, die nur für den Lauf dieses Gesprächs existiert. Ich bin Frau mit Vergangenheit und Zukunft und sitze hier mit Dir. Vielleicht gibt es auch über mir hier tatsächlich eine Schöpferin, in deren Welt ich bloß Schöpfung bin. Ein Charakter, den sie nur zum Zwecke dieser Sätze zeitweilig geschaffen hat. Meine Sprache hat aber kein Wort, dass auf ihre Welt und Sein Bezug nehmen könnte.
Mann: Ich verstehe, was Du sagen willst. Aber sind die Charaktere, die Du niederschreibst, nicht alle in Dir? Nicht auf dem Blatt Papier, sondern in Deinem Geist. Und kannst Du für Deinen Dialog einen Charakter schaffen, der Dir nicht gleicht und fremd ist? Sagen wir, einen Schuft oder eine Heilige?
Frau: Das kann ich nicht. Jede meiner Schöpfungen wäre ein Teil meines Ganzen. Ich kann nichts Fremdartiges oder Neues schaffen. Ich wähle aus dem, was bereits in mir besteht.
Mann: Aber dann wäre jede Deiner Schöpfungen Dir in ihrer Essenz gleich. Ein Teil von Dir. Ihre Seelen, wenn man sie so bezeichnen mag, würden, von Natur aus, Deine Sprache sprechen. Hier gebe es zwischen Euch weder Zeit noch Distanz.
Frau: Und dennoch hören mich meine Charaktere nicht und haben keine Bestätigung für mein Dasein, außer womöglich ihr eigenes. Und sie haben ein Bedürfnis, zu mir zu finden …
Mann: Sie möchten zurückfinden. Im Koran heißt es, der Mensch kehre zu Gott zurück.
Frau: Die Rückkehr des verlorenen Sohns im Christentum.
Mann: Aber weshalb müssen wir zurückkehren, wenn wir den Rahmen des göttlichen Verstandes nie verlassen haben? Deine Charaktere waren, sind und werden in Dir sein. Wir sind jetzt schon da, wo alles vollkommen ist.
Frau: Ein wunderbarer Schluss, und doch findest Du keine Ruhe.
Mann: Ich bin davon überzeugt, dass er stimmt. Und doch …
Frau: Doch ist nicht klar, was daraus folgt. Was ist die Handlungsanweisung ab dem Moment der Erleuchtung?
Mann: Ich suche, suche nach den Menschen, die erleuchtet sind. Nach ihren Taten. Aber ich finde sie nicht.
Frau: Ich glaube, es gab sie. Es gibt sie jetzt. Aber ich denke nicht, dass wir sie in den Geschichtsbüchern finden werden, oder in den Nachrichten. Die Erleuchtung findet in der Stille statt.
Mann: Wem folgt man, wenn es keine Spuren gibt?
Frau: Einen Augenblick dachte ich an die Propheten. An Mohamed zum Beispiel, oder an Jesus. Aber ihr Leben war eine einzige Revolution. Und ich glaube ebenso wenig an die Revolution, wie ich an das Radikalsein glaube. Muss die Erleuchtung einen denn zu einem Umstürzler machen?
Mann: Nein, sie sollte wohl aus der Stille kommen und in die Stille führen.
Frau: Aber wenn Du kein Vorbild finden kannst, in wem ist es dann, was Du suchst.
Mann: Na, in mir. In Gott.
Frau: Aber da ist wieder der Schleier.
Stille
Frau: Manchmal denke ich, der Schöpfer lächelt, wenn wir eines unserer derartigen Gespräche führen. Es fühlt sich an, als würden wir soeben an seiner Pforte klopfen.
Mann: Wir sind fast greifbar nah.
Frau: Wir klopfen nicht. Es ist ein verzweifelterer Akt: Wir kratzen an der Pforte.
Mann: Wie könnte das Universum uns bloß antworten? Hoffentlich nicht erst, wenn wir uns auf den Tod geduldet haben.
Frau: Das erinnert mich wieder an das Viktor Frankl Interview, in dem er neben seiner zukünftigen Grabstätte steht und gefragt wird, ob er Angst vor dem Tod hat. Da sagt er: „Eigentlich nicht. Wirklich Angst könnte ich nur haben vor einem Nicht-Gelebt-Haben, das heißt, wenn ich nicht im Großen und Ganzen die Möglichkeiten ausgeschöpft hätte, etwas Richtiges oder Wichtiges getan zu haben. Dann würde ich, vielleicht nicht Angst haben, aber tief traurig sein. Aber wenn man mir sagen kann: „Im Großen und Ganzen habe ich das Meinige getan.“ – etwas Schöneres gibt es nicht als dieses Bewusstsein.“
Mann: Das Richtige oder Wichtige. Da ist man tatsächlich wieder bei der Frage nach der Berufung. Ist es das, was sie ist? Eine Anweisung vom Universum?
Frau: Wir haben, wie üblich, unseren Kreis vollzogen und sind am Anfang gelandet und sprechen über Berufung.
Mann: Dann sprechen wir erneut über das wunschlose Dasein.
Frau: Und die beste aller möglichen Welten.
Mann: Ich werde mir die Erleuchtung wünschen und Gott hier und jetzt zu einem Dialog auffordern.
Frau: Und dann werde ich sagen, dass die Zeit nicht Dein Feind ist und dass Du nicht so ungeduldig sein sollst.
Mann: Ich gedulde mich, aber es ist so nervtötend.
Frau: Wahre Geduld ist mühelos. Du kämpfst bloß mit Deiner Ungeduld.
Mann: Auch wahr. Letzte Zigarette?
Frau: Letzte. Du siehst müde aus.
Mann: Ich bin müde.
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