Nima und Pygmalion

Kapitel I

Schneeflocken schreien.

Wenn es geschneit hat, sprechen die Menschen immer von Stille. Kein Wunder, schließlich verschluckt der Schnee den Schall unserer Stimme. Er verschluckt den Hall unserer Tritte. Und hört man den Menschen nicht, dann heißt es: Es ist herrlich still. Aber Schneeflocken schreien. Wenn eine Schneeflocke auf eine Wasseroberfläche aufschlägt, werden kleine Luftbläschen, die in ihr eingeschlossen sind, freigesetzt und erzeugen Töne in einer Frequenz, die der Mensch nicht hören kann. Und was der Mensch nicht hören kann – das ist still.

Es war Mitternacht und Nima saß auf der Fensterbank in seinem Zimmer und fragte sich, weshalb Schneeflocken schreien. Nima war klug und hatte gelesen, dass kleine Luftblasen freigesetzt werden, wenn eine Schneeflocke auf eine Wasseroberfläche aufschlägt. Aber was tat das zur Sache? Viel interessanter wäre es, in Erfahrung zu bringen, welche Gemütsregung eine Schneeflocke zum Schreien bewegt. Man könnte schließlich auch sagen: Der Mensch schreit, weil Luft durch seine Stimmritze gepresst wird und die Stimmbänder in Schwingungen versetzt werden. Und erklärte das, weshalb genau dieser Mensch schreit? Lächerlich. Vielleicht müsste man es auch bei den Schneeflocken persönlicher nehmen. Man sollte in etwa fragen: „Weshalb schreit genau diese Schneeflocke?“ Dieser Mensch schreit ja auch nicht aus demselben Grund wie jener. Diese Schneeflocke gibt vielleicht einen Freudenschrei von sich, weil sie erkannt hat, wie schön ihre Symmetrien sind – mit einem stolzen Blick um sich hat sie bemerkt, wie einzigartig sie ist. Jene Schneeflocke gibt vielleicht einen Schreckensschrei von sich, weil sie bemerkt hat, dass sich ein Sonnenstrahl durch die Wolken kämpft und ihrem symmetrischen Dasein gleich ein jähes Ende setzen wird.

Es war zwar schon Spätherbst und das Quecksilber im Thermometer liebäugelte in den letzten Wochen mit der Null, aber von Schnee war nicht die Rede. Außerdem war Nimas Fenster auf eine riesige Kreuzung gerichtet und gegenüber prangte ein großes, hässliches Hotel. Erfreulicherweise hatte Nima längst erkannt, dass dem, was eine Sicht nicht zu bieten hat, mit der Vorstellungskraft nachgeholfen werden kann, und von dieser Erkenntnis machte er häufig Gebrauch. 

Wenn Nima nachts am Fenster saß, fantasierte und über aufregende Dinge wie schreiende Schneeflocke nachdachte, schlummerte er oft nach einer Weile ein und träumte die Fortsetzung seiner Gedankenreisen. So geschah es fast jede Nacht. So hatte sich Nima gestern das Nordmeer vorgestellt. Er hatte an der norwegischen Küste gesessen und lange und ausgiebig einer Orca-Familie bei ihrem täglichen Treiben zugeschaut. Dabei hatte er sich berechtigterweise gefragt, weshalb Orcas als „Killer-“ oder „Mörderwale“ bezeichnet werden – schließlich nennen wir Wölfe auch nicht „Mörderhunde“ oder Tiger „Killerkatzen“. Man sagt zu Orcas wohl auch „Schwertwale“, aber auch das macht wenig Sinn, wenn man bedenkt, dass ein Orca auch ohne Schwert hervorragend zurechtkommt. Immerhin bleibt noch der Name „Orca“ und das ist Latein. Zum Glück sprechen die meisten Menschen kein Latein und dann ist das schlicht ein Wort mit schönem Klang. 

Als Nima eindöste, verflochten sich seine Fantasien zu einem einzigen Traum und ein Sturm schreiender Schneeflocken – im Traum konnte er sie tatsächlich schreien hören – legte sich über die Stadt. Mit einem Mal überflutete das Meer den Ort und Nima floh. Er floh immer weiter ins Zentrum, zu einem kolossalen Einkaufshaus.  Er riss die schweren Glastüren auf und hastete ins höchste Geschoss, aber die Fluten folgten ihm. Der Wasserspiegel drängte unermüdlich in die Höhe und mit ihm eine fünfköpfige Orca-Familie, die direkt an Nima vorbei die Rolltreppen des Einkaufshauses empor schwamm. Ein Orca mit einer riesigen Rückenflosse, die weit über Nima herausragte, hielt an und blickte ihm direkt in die Augen. Nimas eigene schwarze Augen spiegelten sich in den tiefschwarzen Augen des Giganten, und sein Atem stockte. 

„Allmächtiger, schon wieder!“, schrie eine Schneeflocke Nima ins Ohr.

„Nimajan, wieso liegst du nicht im Bett?“, kreischte eine weitere und der Orca blinzelte.

Nima riss die Augen auf und blickte in das Gesicht seiner Mutter.

„Es ist unmöglich, dass du so gut schlafen kannst“, sagte Nimas Mutter und drückte ihm einen feuchten Schmatzer auf die Stirn. Nima brummte nur etwas Unverständliches als Antwort. Es ärgerte ihn, dass seine Mutter ihn genau dann geweckt hatte, als der Orca ihm so eindringlich in die Augen geblickt hatte. Nima hatte das Gefühl gehabt, dass der Wal ihm bestimmt gleich etwas äußerst Wichtiges mitgeteilt hätte, wenn die Schneeflocken nur nicht so laut geschrien hätten. Aber da war nichts mehr zu machen. „Wenn das, was er mir sagen wollte, so wichtig war, kommt er wieder“, beschloss Nima.

In der Küche herrschte bereits großer Tumult. Nimas kleine Schwester Ava saß auf ihrem Hochstuhl und klapperte ungeduldig mit einem Plastiklöffel auf dem Tisch, während die Mutter ihr einen Brei anrührte. Sein Bruder Mehdi, der nur ein Jahr jünger war als Nima, saß nicht weniger zappelig auf seinem Platz als Ava, hatte sein Müsli längst verschlungen und wartete darauf, dass der Vater sein Schulbrot fertig geschmiert hatte. Mehdi raste immer als Erster aus dem Haus, um seine Schulfreunde noch vor dem Unterrichtsbeginn zu treffen.

Nima schlurfte an seinen Platz, stütze seinen Kopf in die Hände und schloss seine Augen nochmal.

„Sag bloß, er hat schon wieder nicht richtig geschlafen?“, fragte der Vater mahnend.

„Jede Nacht dasselbe…“, schimpfte die Mutter, „Den ganzen Tag bist du müde und nickst in jeder Ecke ein. Was machst du nachts bloß immer? Ich weiß gar nicht, wie du es danach in die Schule schaffst.“

Wie, um der Mutter zuzustimmen, knallte Ava an dieser Stelle tadelnd mit dem Löffel auf den Teller und verteilte eine gehörige Portion Bananenbrei in ihrer Umgebung.

„Guck dir deinen Bruder an“, sagte der Vater, „Hast du sein Zeugnis gesehen? Wer gut schläft, der hat auch gute Noten.“

„Du bist der Älteste. Und du solltest den anderen beiden ein Vorbild sein“, pflichtete die Mutter ihm bei.

Nima stocherte nur gleichgültig in seinem Teller und zuckte mit den Schultern: Er hörte diese Predigt täglich.

Mehdi war schon lange aus dem Haus gestürmt, als Nima sich gemächlich auf den Schulweg machte. Obwohl es zu dieser Jahreszeit fast täglich regnete, ließ Nima seinen Regenschirm zu Hause und als seine Mutter aus dem Fenster rief, dass er gefälligst zurückkommen und seinen Regenschirm mitnehmen sollte, tat er so, als würde er sie nicht mehr hören.

Nima wollte seine Eltern gar nicht ärgern, aber er verstand nicht, weshalb es so wichtig war, die besten Noten nachhause zu bringen oder wieso man auf dem kurzen Schulweg nicht ein wenig nass werden durfte. Erwachsene hatten zu viele alberne Regeln: „Wenn es regnet, muss man trocken bleiben. Wenn die Uhr eine bestimmte Stunde schlägt, muss man müde, hungrig oder fleißig sein. Wenn man zur Schule geht, um etwas zu lernen, muss man bereits der Beste darin sein.“ Wieso konnte man nicht nass werden oder trocken bleiben, wenn einem gerade danach war? Wieso nicht essen, wenn man hungrig ist? Schlafen, wenn man müde ist? Wieso nicht einfach lernen, um etwas zu lernen, um etwas zu können, einfach, weil es Spaß machte.

Nimas Eltern machten aus einer Mücke einen Elefanten: Er war gar nicht so schlecht in der Schule, wie sie es gerne am Frühstückstisch dramatisierten, er hatte bloß nicht so herausragend gute Noten wie Mehdi. Und wieso sollte er bessere Noten als Mehdi haben? Vielleicht übertraf Ava in einigen Jahren ja alle beide. Außerdem hatte die Sache mit den Noten eine einfache Erklärung. Nima war zwar bereit, sich leidenschaftlich in jedes Thema zu stürzen, wofür er sich begeisterte und sogar weit mehr darüber zu lernen als verlangt war, aber er konnte sich überhaupt nicht dazu hinreißen, sich mit Dingen zu beschäftigen, die ihn nicht interessierten. Ganz geschweige dessen, dass man manchmal von ihm verlangte, Dinge auswendig zu pauken. Mehdi konnte sich im Gegensatz zu Nima sehr gut für die einfache Tatsache begeistern, einen perfekten Notenschnitt nachhause zu tragen.

Besonders mochte Nima den Kunstunterricht. Er war in Kunst wirklich außergewöhnlich begabt und zeichnete die schönsten Bilder seines Jahrgangs – am liebsten galoppierende schwarze Pferde mit einer weißen Blesse auf der Stirn. Nur in seinen Noten bildete sich das selten ab. Zur Verärgerung seiner Lehrerin malte Nima immer nur in Schwarz und Weiß und weigerte sich, Farben zu benutzen. Während Nima einige Regeln der Erwachsenen missachtete, weil sie ihm unsinnig erschienen, trotzte er seiner Kunstlehrerin nicht mit Absicht. Nima fiel es schwer, Farben zu sehen. Er war nicht etwa farbenblind, doch in seiner Vorstellung gab es nur graue Töne. Er konnte sich vage erinnern, dass es einst Farben in seinen Gedanken gegeben hatte, aber sie waren unerklärlicherweise spurlos verschwunden.

Nimas miserabelstes Fach war Musik. Mehdi nahm in seiner Freizeit Klavierunterricht und machte schnell Fortschritte. Nima aber hatte darauf bestanden, Geige spielen zu lernen. Nur hatte er bedauerlicherweise ein erbärmliches musikalisches Gehör und spielte leidlich und falsch. Der wöchentliche Unterricht vermochte nicht viel daran zu ändern. Seine Mutter hatte die ganze Angelegenheit bald beenden wollen, aber als sie es ihm gegenüber erwähnte, schaute er sie so unglücklich an, dass sie es dabei beließ. Also spielte Nima weiterhin Geige und immer, wenn er sein Instrument auspackte, hörte er seinen Vater sagen: „Und täglich grüßt das Wimmerholz!“ Das kränkte Nima nicht, denn auch wenn er wirklich fürchterlich schief spielte, blitzte immer ein begeisterter Funke in seinen Augen auf, wenn er seine Geige in die Hand nahm, und solange er das durfte, sollte ihm alles recht sein.

Genau einen Moment vor dem Läuten der Schulklingel hatte Nima das Klassenzimmer betreten und musste darüber schmunzeln. Es war ihm ein Anliegen, so spät zu kommen wie irgend möglich – ohne unpünktlich zu sein. 

„Kennt einer von euch die Sage von Pygmalion?“, fragte der Lehrer, während Nima sich setzte, aber keiner der Schüler meldete sich.

„Wie schön, dann habe ich jetzt das Vergnügen, euch zum ersten Mal von diesem wunderbaren Mythos erzählen zu dürfen.“

Die Klasse hatte sich in den letzten Wochen mit den Mythen und Sagen des antiken Griechenlands beschäftigt und hatte sich bereits mit Ikarus und Prometheus auseinandergesetzt. Die Sage von Prometheus hatte Nima besonders gefallen.

„In Zypern lebte ein Mann namens Pygmalion“, erzählte der Lehrer. „Zypern ist eine Insel im östlichen Mittelmeer. Kennt jemand die Hauptstadt von Zypern?“ 

Der schlaksige blonde Junge zu Nimas Rechter riss eifrig seine Hand in die Höhe.

„Nikosia! Da war ich letzten Sommer mit meinem Vater!“, ratterte er.

„Wunderbar, Friedrich“, lobte ihn der Lehrer. „Pygmalion, der Held unserer Geschichte, war ein bekannter Bildhauer. Er war ein einsamer und verbitterter Mann und fand keinen Gefallen an den Frauen Zyperns. Doch eines Tages erschuf er zu seiner eigenen Verwunderung eine einzigartig schöne Elfenbeinstatue…“

„Wie fürchterlich!“, rief ein rothaariges Mädchen dazwischen. Sie rümpfte ihre Nase und verschränkte die Arme. Sie hatte eine komische, lallende Art, Dinge auszusprechen und war erst kürzlich in ihre Klasse gekommen.

„Was ist so fürchterlich, Saoirse?“, fragte der Lehrer erstaunt.

„Hat Pygmalion Elfen die Beine abgeschlagen und daraus Statuen gemacht?“ 

„Mit Elfen hat das nichts zu tun – auch wenn wir uns hier in der Welt der Mythen befinden“, lachte der Lehrer.

„Sie haben gesagt: Elfen-bein-statue“, wiederholte Saoirse.

„Mit Elfenbein sind die Stoßzähne von Elefanten gemeint!“, sprudelte Friedrich los.

„Das macht es nicht besser“, rief Saoirse nicht weniger empört, „Was soll ein Elefant ohne Zähne?“

„Gute Frage“, pflichtete der Lehrer ihr bei, „Es ist in den meisten Fällen nicht mehr erlaubt, mit Elfenbein zu handeln, aber natürlich gibt es bis heute Wilderer, die Elefanten wegen ihrer kostbaren Stoßzähne jagen und töten.“

„Widerlich! Pygmalion war also ein schlechter Mensch“, schlussfolgerte das Mädchen.

„Ich glaube nicht, dass man das so klar sagen kann. Was meinst du, Nima?“

Nima hatte sich nicht gemeldet, aber der Lehrer hatte die lästige Gewohnheit, Nima aus heiterem Himmel dranzunehmen.

„Ich glaube“, sagte Nima zögernd, „man muss Pygmalion danach beurteilen, was zu seiner Zeit üblich war. Manchmal weiß man erst viel später, was gut ist und was nicht. Wir können schlecht sagen, er hätte etwas anders machen müssen, wenn alle Menschen seiner Zeit es nicht besser wussten.“ Nima überlegte. „Ich habe zum Beispiel in einer Museumsausstellung Werbeplakate für Zigaretten gesehen, auf denen stand, dass Rauchen gesund ist und von Ärzten empfohlen wird. Jetzt wissen wir es natürlich besser, aber hat man damals geraucht, war man sicher überzeugt, dass man seiner Gesundheit etwas Gutes tut. Wenn es also zur Zeit von Pygmalion gang und gäbe war, Elfenbein zu verwenden, dann war Pygmalion kein schlechter Mensch, sondern bloß ein Mensch wie jeder andere.“

„Was meinst du, Saoirse? Kannst du das nachvollziehen?“, wendete der Lehrer sich wieder an das Mädchen.

„Wie kann man bloß nicht verstehen, dass es falsch ist, einem Tier weh zu tun? Da hätte er doch alleine drauf kommen können – ganz ohne die anderen“, murmelte Saoirse

„Da hast du wohl recht. Dennoch können wir uns vielleicht darauf einigen, dass Pygmalion, im Verhältnis zu den Menschen seiner Zeit, weder ein besonders guter noch ein besonders schlechter Mensch war. Vor allem aber war er ein äußerst talentierter Bildhauer. Wie ich euch bereits erzählt habe, schuf er eines Tages eine außergewöhnlich schöne Elfenbeinstatue – die Statue einer Frau. Als Pygmalion sein frisch vollendetes Werk bestaunte, geschah etwas Unfassbares: Er verliebte sich in seine eigene Statue.“

Einige Jungen und Mädchen kicherten, denn es war eine wirklich sehr komische Vorstellung, dass sich jemand in eine Statue verlieben konnte.

„An einem Frühlingstag, dem Fest der Aphrodite, betete Pygmalion, der von der Liebe zu seiner leblosen Statue geplagt war, voller Inbrunst zur Göttin der Liebe. Und als er nach dem Fest nach Hause zurückkehrte und sich nicht davon abhalten konnte, seine Statue zu küssen, spürte er plötzlich, dass ihre Lippen warm geworden waren. Aphrodite hatte Pygmalions Gebet erhört und Galatea, so hieß sein Werk, zum Leben erweckt. Pygmalion und Galatea heirateten und lebten glücklich zusammen.“

„Diese Sage hat ein viel fröhlicheres Ende als die anderen beiden“, meldete sich Friedrich zu Wort, „ich meine, Ikarus ertrinkt im Meer und Prometheus Leber wird täglich von einem Adler gefressen. Da ist ‚und sie lebten glücklich zusammen‘ irgendwie ein unerwartetes Ende.“

„Was meinen die anderen?“, fragte der Lehrer

„Das ist irgendwie romantisch und so…“, murmelte ein Junge aus der hintersten Reihe

„Also, ich denke, dass Pygmalion kein so positives Ende verdient hat, wenn er nicht selbstständig denken kann“, warf Saoirse ein.

„Du kannst ihm die Sache mit den Elefanten nicht verzeihen, was?“, fragte der Lehrer. Saoirse zuckte mit den Schultern.

„Dein gutes Recht. Wisst ihr, was mich daran fasziniert? Die schöpferische Macht der Liebe. Galatea ist an und für sich bloß ein gekonnt gemeißelter Stein, aber die Tatsache, dass Pygmalion seine Vorstellung einer idealen, geliebten Frau in ihm verwirklicht hat, macht diesen Stein zu etwas Einzigartigem, zu etwas Geliebtem. Pygmalion liebt nicht den Stein, sondern seine Idee, die er in dem Stein verewigt. Und die Liebe, hier im übertragenden Sinne die Göttin Aphrodite, haucht seiner Idee Leben ein.“

„Wie meinen Sie das?“, fragte Friedrich. „Wie kann Liebe eine Idee lebendig machen? Also nicht im Mythos – Sie sagen ja immer, wir sollen daraus eine Lehre für uns ziehen.“

„Sagen wir, du bist Schriftsteller, Friedrich. Du möchtest ein Buch schreiben. Meinst du, du kannst ein Buch schreiben, bloß mit der Absicht, ein Buch zu schreiben?“

„Ich bin doch Schriftsteller, natürlich kann und will ich ein Buch schreiben.“

„Wenn ein Schriftsteller ein Buch schreibt, mit der bloßen Absicht, ein Buch zu schreiben oder vielleicht, um damit Geld zu verdienen, kommt, wenn wir es von außen betrachten, vielleicht etwas dabei raus, was wir tatsächlich ein Buch nennen würden. Aber ein solches Buch wird wohl kaum etwas Nennenswertes darstellen. Es wird kein Buch für die Ewigkeit. Natürlich kann so ein Schriftsteller Wörter aneinanderreihen und sie drucken und binden lassen, aber damit ist das Ergebnis nicht lebendiger als ein beliebiger Stein. Wahre Schriftsteller aber haben eine Eingebung, eine Idee von einer Geschichte in ihrem Geist, Ideen von Charakteren und ihrem Leben und sie sind so sehr von ihren Ideen ergriffen, dass sie gar nicht anders können, als diese Ideen aus ihrer geistigen Welt in die materielle Welt zu befördern. Künstler sind Menschen, die sich so sehr in eine Idee verlieben, dass sie nicht anders können, als ihre Ideen außerhalb ihres Geistes in der materiellen Welt zum Ausdruck zu bringen. Nur etwas so Mächtiges wie Liebe kann etwas aus dem Raum der bloßen Vorstellung in die reale Welt bringen.“

Die Klasse schwieg eine Weile und dann hob Nima seine Hand.

„Die meisten Märchen haben dasselbe Fazit: ‚Liebe ist mächtig, siegt, gewinnt…‘ Trotzdem verstehe ich nicht, weshalb ein Schriftsteller kein wahrer Schriftsteller sein soll, bloß weil er ‚einfach ein Buch schreibt‘ oder dadurch motiviert ist, dass er seine Familie ernähren will.“

„Eine sehr gute Frage. Vielleicht können wir hier eine Parallele zu den Philosophen und Sophisten der griechischen Antike ziehen. Der Philosoph Platon hat einmal versucht zwischen der Person des Philosophen und der Person des Sophisten zu unterscheiden, aber die Schwierigkeit bestand darin, dass Sophist und Philosoph von außen kaum zu trennen sind: Beide verfügen über ein gleichwertiges sprachliches und argumentatives Handwerk, unterrichten die Jugend, halten Reden… Dabei widmet der Philosoph aber sein ganzes Dasein dem Streben nach Erkenntnis und Wahrheit und das sophistische Ziel ist unbestimmt. Vielleicht strebt der Sophist nach Anerkennung und Ruhm, vielleicht auch nach Reichtum, aber die Wahrheitsfrage spielt für ihn keine Rolle. Damit will ich sagen: Die innere Motivation ist von Belang. Von außen mag ein Schriftsteller dem anderen gleichen, aber wenn jemand wirklich etwas um der Wahrheit oder Liebe willen tut, wissen wir das höher zu schätzen, nicht wahr?“

Die Klasse schwieg. Manchmal holte Herr Klavis zu weit aus, ehe ihm bewusst war, dass niemand mehr folgend konnte. „Hat noch jemand etwas zu Pygmalion zu bemerken?“, fragte er, das Thema wechselnd.

Ein Mädchen mit krausen schwarzen Haaren und einer Zahnspange meldete sich: „Das ist eine schöne Geschichte, aber ich fände es besser, wenn er eine Statue von etwas Aufregenderem als einer Frau gemacht hätte. Hätte er zum Beispiel eine Drachenstatue gemacht und Aphrodite hätte die zum Leben erweckt, dann könnte er Drachenreiten.“

„Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Was würden die anderen für eine Skulptur machen, wenn Aphrodite sie zum Leben erwecken könnte?“

„Eine Pferdestatue!“, „Einen Greif!“, „Einen Hund!“, „Meine Oma!“ „Einen BMW!“, riefen die Schüler im Durcheinander und die Schulglocke läutete. 

Die Geschichte von Pygmalion und seiner geliebten Statue ging Nima nicht aus dem Kopf. Nima hatte nicht darauf antworten können, was für eine Statue er mit dem Wissen gebaut hätte, dass sein Werk zum Leben erwachen würde. Jemand hatte „meine Oma“ gerufen. Das war eine gute Idee, dachte sich Nima. Dann könnte er vielleicht eine Skulptur von seinem Großvater machen.

Nimas Großvater war vor einem Jahr verstorben und es wäre so schön, ihn wiederzuhaben. Er hatte Nima jeden Sommer mit ins Schwimmbad genommen. Als er noch kleiner war, war sein Großvater es, der ihm Mut gemacht hatte, vom Dreier zu springen. Sich einfach fallen zu lassen, obwohl das Becken von da oben so klein wirkte. Nima hatte am Ende des Sprungbretts gestanden und konnte sich nicht überwinden, zu springen. Die Menschen im Wasser sahen so aus, als wären sie Meilen entfernt, aber da war Nimas Großvater. Auch klein, aber mit einem großen, strahlenden Lächeln, und Nima hatte plötzlich keine Angst mehr zu springen. Er schritt ins Nichts, flog eine Weile, tauchte ein und sein Großvater erwartete ihn stolz und fröhlich an der Wasseroberfläche. Es war überhaupt nicht schlimm gewesen, sich fallen zu lassen. 

Nima überlegte. Seine Eltern waren ganz anders, seit sein Großvater verstorben war. Aber, wenn er eine Statue von seinem Großvater machen würde und sie zum Leben erweckt würde, wäre das dann überhaupt sein Großvater? Oder einfach jemand, der so aussah wie sein Großvater? Vielleicht wäre das so eine Sache wie mit den Philosophen und den Sophisten, von denen der Lehrer erzählt hatte. Der Statuen-Großvater würde nach außen ganz so wie sein Großvater sein, aber innen würde etwas fehlen. Und was, wenn es wirklich sein Großvater wäre? Innen uns Außen? Wäre er froh, wieder bei ihnen zu sein? Als er verstorben war, hatte Nimas Onkel gesagt: „Jeder geht zu seiner Zeit.“ Wenn es die richtige Zeit für den Großvater gewesen war, zu gehen, durfte er hier vielleicht gar nicht mehr sein.

„Nein“, entschied Nima, „ich glaube, er würde das nicht wollen.“

Nima war den ganzen Schultag in Gedanken über die Sage von Pygmalion versunken und war überrascht, als die Klingel läutete, um den Schulschluss anzukündigen. Die vielen Gedanken über Philosophen, Statuen und seinen Großvater, geschweige der Träume von blinzelnden Orcas und schreienden Schneeflocken, hatten ihn müde gemacht und er sehnte sich danach, Zuhause ein Nickerchen zu machen.

[...]
 

Die Veröffentlichung dieses Buchs erfolgt voraussichtlich Dezember 2025.

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